Mindestbeitrag frisst Einkommen auf

Bild: Hermann Haubrich

Viel wird über die von Union und SPD angepeilte neue Große Koalition in Berlin geschimpft. Doch für „Kleine Selbstständige“ könnte sie zumindest eine Verbesserung bringen: „Wir werden die Mindestkrankenversicherungsbeiträge für kleine Selbstständige reduzieren“ steht wortwörtlich auf Seite 13 in den Sondierungsergebnissen vom 12. Januar.

Das Problem der Selbstständigen in Sachen Krankenversicherung muss dringend gelöst werden. Egal ob privat oder gesetzlich versichert: Insbesondere gering verdienende Selbstständige sind durch hohe Krankenkassen-Beiträge bis zur Existenzbedrohung belastet.

ver.di als „die Vertretung der Solo-Selbstständigen“, wie es ver.di-Chef Frank Bsirske betont hat, verfügt über ein eigenes Selbstständigen-Referat in der Gewerkschaftszentrale und entsprechende ehrenamtliche Gremien. Diese fordern seit langer Zeit eine Auftraggeber-Abgabe. Das bedeutet: Wer Solo-Selbstständigen einen Auftrag erteilt, muss neben dem Honorar einen Prozentsatz für die Sozialversicherungskosten drauflegen. Dieses Geld könnte – ähnlich wie bei Angestellten – die Krankenversicherung der Selbstständigen mitfinanzieren.

Doch ver.di fordert eigentlich mehr als das, was im GroKo-Papier steht: eine Bürgerversicherung nämlich, stellt Referatsleiterin Veronika Mirschel klar. Aber zunächst „erwarte ich, dass eine mögliche Koalition aus SPD und Union genau das macht, was in den Sondierungs-Ergebnissen steht“. Die Mindest-Kassenbeiträge senken: Ein erster Schritt also auf dem Weg zur Umsetzung des ver.di-Wunschs, an dessen Ende sich die Beiträge von (Solo-)Selbstständigen an deren realem Erwerbseinkommen orientieren.

Tatsächlich aber passierte zum Jahreswechsel das, was in jedem Jahr geschieht: „Die Mindestbemessungsgrenze wurde angehoben. Und damit steigt mein monatlicher Beitrag erneut – obwohl mein Einkommen unterhalb dieser Grenze liegt.“ Das sagt Andreas Müller aus Saarbrücken, selbstständiger Blumenhändler und Initiator der Petition „Gerechte Krankenkassenbeiträge für geringverdienende Selbständige“. Die hat auf change.org inzwischen mehr als 110.000 Unterstützer_innen.

Vielleicht hat diese große Resonanz ja auch einige GroKo-Sondierer_innen beeindruckt. Möglicherweise aber war es auch eine Reaktion auf die Forderung des AOK-Bundesverbandes? Deren Pressesprecher Kai Behrens erklärte gegenüber Frontal 21 im ZDF, die neue Koalition solle jetzt darangehen, die Beitragsbemessungsgrenze auf 990 Euro abzusenken. „Damit wären die Überforderung und eine Überschuldung von Selbstständigen abgewendet.“ Doch selbst dieser Beitrag würde bei vielen Betroffenen das Einkommen zu großen Teilen auffressen.

Harald Weinberg, Bundestagsabgeordneter der Linken aus Ansbach und ver.di-Mitglied, weiß: Geringes Einkommen ist in dieser Gruppe von Erwerbstätigen beileibe kein Einzelfall. „Wir haben in Deutschland 4,2 Millionen Selbstständige. Mehr als die Hälfte, nämlich 2,3 Millionen, sind Solo-Selbstständige, haben also selber keine Beschäftigten. Jeder Dritte von den 2,3 Millionen hat einen Verdienst von unter 1.100 Euro im Monat.“

Ganz gleich wie hoch der Monatsverdienst von Selbstständigen derzeit ist: „Unsere Position ist klar: Wir wollen, dass ab der Geringfügigkeitsgrenze ein einkommensbezogener Beitrag erhoben wird. Die Vorschläge für die Grundlage der Beitragsberechnung reichen in der aktuellen politischen Debatte jedoch von 450 Euro bis 1015 Euro pro Monat. Bereits die Annahme, Selbstständige verdienten mindestens 1015 Euro, würde gegenüber dem heute gültigen Betrag eine sehr deutliche Entlastung für Geringverdiener bedeuten. Dennoch bliebe für Viele eine Gerechtigkeitslücke, die ihre Ursache letztlich ebenfalls im Fehlen einer Bürgerversicherung hat“, heißt es aus dem Referat Selbstständige bei ver.di.

Ob Betroffene Widerspruch gegen das Verhalten der gesetzlichen Krankenkassen einlegen sollten, die Mindestbeiträge zum Jahreswechsel hochzusetzen, wie im ver.di-Mitgliedernetz zu lesen ist, wird in Gewerkschaftskreisen kritisch gesehen. Jedenfalls gibt es bei verdi.de ein eigenes Forum, das sich mit der Müller-Petition beschäftigt. Darin nimmt ein Gewerkschaftsmitglied die Kassen in Schutz: „So lange die Gesetzeslage so bleibt, wie sie seit Jahrzehnten ist, sind die Krankenkassen zum Einzug des erhöhten Mindestbeitrages gesetzlich gezwungen.“

Gundula Lasch, freiberufliche Journalistin aus Leipzig und ehrenamtliche Vorsitzende der Bundeskommission Selbstständige von ver.di, fordert deshalb „dranbleiben. Sowohl bezüglich der Krankenkassenbeiträge, aber auch der Rentenaussichten von Solo-Selbstständigen und anderen prekär Beschäftigten. Das ist ein dickes Brett und wird sicher nicht in Kürze zu durchbohren sein. Es liegt an uns, wie stark wir uns in die öffentliche Diskussion einbringen – uns auch innerhalb von ver.di positionieren.“

Das sieht auch besagte Kollegin im Mitgliedernetz so. „Der Gesetzgeber geht nach wie vor davon aus, dass Selbstständige zumeist mehr verdienen als abhängig Beschäftigte Arbeitnehmer_innen. Dies ist heutzutage real längst nicht mehr so.“ Deshalb müsse „die reale Ungleichbehandlung von Selbstständigen und abhängig beschäftigten Arbeitnehmer_innen in der gesetzlichen Krankenversicherung auf dem Klageweg vor den Gerichten überzeugend dargelegt werden“, womöglich am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht, meint die auch in ehrenamtlichen Gewerkschaftsgremien Aktive.

Leider hat das BVerfG 2001 entschieden (22. Mai 2001- 1 BvL 4/96): „Die Mindestbemessungsgrenze für Beiträge hauptberuflich selbständig Erwerbstätiger, die freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sind (§ 240 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGB V) ist verfassungsgemäß“, heißt es im Leitsatz der Entscheidung des Ersten Senats. Jedoch haben sich die Zeiten und die Bedingungen für selbstständiges Arbeiten natürlich geändert, deshalb braucht es insgesamt einen Neuanlauf.


Aktualisierung und Ergänzung am 7.2.2018

Bemessungsgrenze soll halbiert werden

Aus dem Koalitionsvertrag (S.99): „Um den sozialen Schutz von Selbstständigen zu verbessern, wollen wir eine gründerfreundlich ausgestaltete Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen einführen, die nicht bereits anderweitig obligatorisch (z. B. in berufsständischen Versorgungswerken) abgesichert sind. Grundsätzlich sollen Selbstständige zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und – als Opt-out-Lösung – anderen geeigneten insolvenzsicheren Vorsorgearten wählen können. Wobei diese insolvenz- und pfändungssicher sein und in der Regel zu einer Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen müssen. Zudem werden wir die Mindestkrankenversicherungsbeiträge für kleine Selbstständige reduzieren. Die Renten- und Krankenversicherungsbeiträge sollen gründerfreundlich ausgestaltet werden.“

S. 101: „Um kleine Selbständige zu entlasten, werden wir die Bemessungsgrundlage für die Mindestkrankenversicherungsbeiträge von heute 2283,75 Euro auf 1150 Euro nahezu halbieren.“

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