Moral und Journalismus

Wo es um Werte und Normen geht, da sind die ganz großen Themen nicht weit, da geht es um Leben und Tod, um Freundschaft und Hass, um Miteinander und Gegeneinander. Entsprechend müsste auch in den Medien von Ethik und Moral die Rede sein. Kurz gefragt: Wo wird in der Presse die Moralkeule geschwungen? Wie häufig wird Moral thematisiert und in welchen Ressorts kommt sie vor?

Prof. Dr. Hektor Haarkötter Foto: privat
Prof. Dr. Hektor Haarkötter
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Mit solchen Fragen habe ich mich in einer bigdata-Analyse journalistischer Medien wie der Süddeutschen Zeitung, der Bild und auch der Bunten beschäftigt. Mehrere hunderttausend Textbeispiele konnten dabei quantitativ ausgewertet werden. Danach kommt der Begriff „Moral“ in über 200.000 Texten auf sueddeutsche.de genau 5.552-mal vor. In den mehr als 800.000 Texten auf bild.de findet „Moral“ sich 2.152-mal. Das ist tatsächlich nicht gerade wenig, macht aber doch nur den geringsten Teil des Textkorpus aus. Sonderlich beliebt scheint das Themenfeld Moral unter Journalisten nicht zu sein. Statistisch auffällig ist dabei, wie sich die Verwendung des Moral-Begriffs auf die verschiedenen Ressorts verteilt. Spitzenreiter ist: das Sportressort! Es vergeht kein Bundesliga-Wochenende, an dem nicht von der „Moral“ einzelner Spieler oder ganzer Mannschaften und den berühmten „deutschen Tugenden“ geschrieben wird. Dass es hierbei nicht um die Diskussion unserer grundlegenden ethischen Problemstellungen geht, liegt auf der Hand. Die Moral im Sport ist ein persönlicher Charakterzug, ein Qualifikationskriterium für Spitzensportler, wenn’s dicke kommt, gar eine Schwäche.

Moralkeule

Noch in einem weiteren Ressort hat die Moral vor allem in Boulevardmedien wie der Bild oder dem „People-Magazin“ Bunte Konjunktur. Hier wird das Wortfeld „Moral“ regelmäßig in solchen Artikeln thematisiert, die um Sexualität oder Nacktheit kreisen. All die „Busenblitzer“, „Nippelgates“ und Paparazzi-Fotos werden mit dem Moralmäntelchen notdürftig bedeckt. Dabei stellen Fragen der Sexualität, wie der Moralphilosoph Peter Singer einmal festgestellt hat, in aller Regel gar kein moralisches Problem dar. Der Begriff Moral wird stattdessen missbraucht, um künstlich Problemfelder zu konstruieren und auf diese Weise überhaupt erst einen Berichterstattungsanlass künstlich zu erzeugen. Hier wird buchstäblich die Moralkeule geschwungen, um sich umso inbrünstiger mit dem abgeben zu können, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als ihre kleinbürgerliche Auffassung von Unmoral den Medienleuten unterstellt hat. Der Moralbegriff protegiert also die Unmoral: Ein Journalismus-Paradox.
Auch im Politikteil kommt „Moral“ vor. Auffällig daran ist allerdings, dass selbst in einem Qualitätsmedium wie der Süddeutschen Moral fast immer als feste Größe oder als Schicksalsschlag daherkommt. Schwierige Begründungszusammenhänge oder abweichende moralische Standpunkte werden von den Journalisten praktisch nie erörtert. Dabei zeichnen sich moralische Konflikte ja gerade dadurch aus, dass unterschiedliche Positionen und Wertvorstellungen aufeinander treffen.

Bemerkenswert ist auch, wo Moral in journalistischen Texten gerade nicht vorkommt. In meiner Studie wurden ausdrücklich auch solche Texte untersucht, die um Wissenschafts- und Forschungsthemen kreisen. In diesen Themengebieten hatte ich im Vorfeld am ehesten ein hohes Moral-Vorkommen erwartet, weil hier die moralischen Konflikte spielen, mit denen sich beispielsweise der Deutsche Ethikrat befasst. Es fanden sich allerdings in der Süddeutschen Zeitung insgesamt nur 19 Belegstellen, in der Bild sogar nur zwei. Unterrepräsentiert ist der Begriff Moral auch im Wirtschaftsteil. In nur acht Prozent der Artikel wird Moral thematisiert: Moral kommt in der Wirtschaft nicht vor.

„Gute“ Ratschläge

Moral kann im Journalismus nicht nur thematisiert, sondern auch direkt betrieben werden. Das ist der Fall, wenn in journalistischen Texten konkrete Handlungsanweisungen gegeben werden oder Modalverben wie können, sollen, wollen, müssen, mögen und dürfen Verwendung finden. Solche Vorkommen habe ich an zwei Fallbeispielen untersucht, nämlich dem „Skandalauftritt“ der alkoholisierten Schauspielerin Jenny Elvers in einer NDR-Vorabendsendung sowie der „Wulff-Affäre“. Man möchte meinen, der Journalismus sei vor allem der neutralen und objektiven Berichterstattung verpflichtet und würde darum „gute“ Ratschläge nach Möglichkeit vermeiden. Aber weit gefehlt. Von direkten Ansprachen der Bild-Zeitung („Liebe Jenny, Du musst Dich nicht schämen“) bis zu ironisierten Aufforderungen der taz („Helft auch den Kerlen!“) reicht das Spektrum klarer Handlungsaufforderungen. Eine Spezialität der Mediensprache scheint zu sein, deutliche Imperative dadurch zu vermeiden, dass man sie gerade in ihr Gegenteil verkehrt, also in Fragesätze. Formulierungen wie die Überschrift „Warum stoppte keiner die Sendung?“ im Elvers-Fall oder „Wie lange hält das Amt solche Schlagzeilen aus?“ im Wulff-Fall haben klaren normativen, also handlungsauffordernden Charakter. Imperative in Fragesätzen zu formulieren, könnte man als das zweite moralische Paradox des Journalismus nennen.
Rechnet man die Belegstellen zusammen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass Moral in den untersuchten Blättern überwiegend im unterhaltsamen und boulevardesken Teil vorkommt und dort auf eine oft sehr paradoxe Art behandelt wird. „Drum besser wär’s, wenn nichts entstünde“, sagt Mephisto im Faust. Drum besser wär’s, wenn in unseren Zeitungen nicht moralisiert würde, könnte man anfügen. Lieber keine Moral im Journalismus, als die Art und Weise, wie wir sie jetzt präsentiert bekommen. Denn die Behandlung der großen und ernsten Fragen unserer Gesellschaft wird sonst trivialisiert und boulevardisiert und könnte die damit zusammenhängenden Probleme eher noch vergrößern, statt zu ihrer Lösung beizutragen.

Zur Person

Professor Dr. Hektor Haarkötter ist freier Publizist und Medienwissenschaftler und lebt in Köln. Die Untersuchung zu „Moral in den Medien“ wurde bei einer Tagung der Fachgruppe Medienethik in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikation (DGPuK) erstmals vorgetragen und wird demnächst im Tagungsband ausführlich dokumentiert.

 

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