Neue Themen im Lokalen

Journalistinnen und Journalisten haben viele Ideen,aber Qualität kostet Zeit und Geld

„Die Themen liegen auf der Straße. Man muß sie nur finden.“ Welcher Lokaljournalist mußte diesen geistreichen Ausspruch seines Chefredakteurs noch nicht über sich ergehen lassen? Natürlich, letztlich wird die Zeitung jeden Tag wieder voll. Doch wer länger im Geschäft ist, (ver)zweifelt – nicht immer, aber immer öfter – am hehren journalistischen Anspruch, den Lesern täglich aufs Neue die großen Probleme aus Politik und Gesellschaft aktuell zu servieren, die sich im „sozialen Mikrokosmos der Gemeinde … konkret und mit den Händen greifbar“1 wie in einem Brennglas wiederspiegeln.

Vielmehr erscheint das öffentliche Geschehen im Dorf, in der Stadt und der Region bald als immer wiederkehrende Abfolge feststehender Termine wie Bürgermeistergespräch, Ratssitzung, Schützenfest und Jahreshauptversammlung der Feuerwehr, nach denen man das Jahr lokaljournalistisch einzuteilen beginnt. Also, wo sind sie nun, die neuen Themen?

Wenn sie wirklich auf der Straße liegen würden, hätte der „typische“ Lokaljournalist2 (männlich, 37 Jahre alt, verheiratet und nach dem abgeschlossenen Hochschulstudium fest eingestellt als Redakteur) schlechtere Chancen als seine Berufskollegen, sie zu finden. Sitzt er doch täglich 40 Minuten länger als sie am Bildschirm. Er ist deshalb auch unzufriedener als sie mit dem Zeitbudget für Recherchen. Dabei ist der Anspruch des lokalen Berichterstatters höher als beim Durchschnitt aller Journalisten, dem Publikum Lebenshilfe zu bieten, sich für Benachteiligte einzusetzen und Kritik an Mißständen zu üben. Vielleicht liegt es daran, weil er in das Geschehen, über das er berichtet, viel stärker eingebunden ist als seine Kollegen in anderen Ressorts.

Am wichtigsten: Die lokale Information

Auch der Kontakt zu den Leserinnen und Lesern ist viel intensiver. Und diese möchten die lokale Abonnementzeitung nicht missen, die – trotz leicht sinkender Tendenz – immerhin 71,3 Prozent der deutschen Bevölkerung3 erreicht. Gelesen werden Tageszeitungen in erster Linie wegen der lokalen Informationen, die Leser zu 96 Prozent als wichtigen oder eher wichtigen Grund für ihr Interesse nennen. Spaß an der Lektüre der Lokalzeitung wird hingegen nur von knapp der Hälfte der Leser als wichtig oder eher wichtig genannt.4

Defizite gibt es aber nicht nur beim Lesespaß, sondern auch bei einigen Themen. Nach der Dortmunder mct-Umfrage kritisieren 36 Prozent der mehr als 2000 Befragten, daß Verbrauchertips zu selten zu lesen sind, 32 Prozent sind es bei Berichten aus der Arbeitswelt, 31 beim Themenfeld Schule/Kinder, 28 bei der Stadtgeschichte und 27 Prozent bemängeln zu seltene Artikel über Umwelt und Natur, während diese nach Meinung von neun Prozent zu oft im Blatt vorkommen. Übrigens wäre nach einer anderen Umfrage des Instituts für Journalistik der Universität Dortmund „interessantere Themen“ mit einer Zustimmung von über 40 Prozent der Hauptgrund für Leser, die Zeitung zu wechseln.

Bei der Beurteilung von Zeitungsartikeln legen Leser nicht unbedingt journalistische Ansprüche zugrunde. Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Lünen5 ergab beispielsweise, daß die Trennung von Nachricht und Kommentar mehrheitlich (71,9 Prozent) nicht für wichtig gehalten wird. Geschätzt werden jene Artikel, die neben dem interessanten Thema inhaltlich vollständig, verständlich geschrieben, gut aufgebaut und kurz gehalten sind. Bei der Beurteilung von Artikeln hat die Präsentation noch vor dem Thema den ersten Stellenwert. Von den befragten Lesern vermißt wurden häufig Stellungnahmen von Menschen, die von bestimmten Ereignissen betroffen sind. Daß „normale Leute“ in Artikeln zu Wort kommen, wünschten sich 92,3 Prozent, eine Recherche „vor Ort“ 89,7 Prozent, gefolgt vom Offenlegen der Quellen (63,5 Prozent) und der Berücksichtigung vieler Quellen (62,5 Prozent).

Die „Rollende Redaktion“

Also doch: Raus auf die Straße! Vor Ort zu sein und mit „normalen Leuten“ ins Gespräch zu kommen, dabei neue Themen aufzutun, das alles kann sich eine Redaktion auch organisieren. Die „Saarbrücker Zeitung“ beispielsweise hat eine eigene Leser-Redaktion eingerichtet, die nicht nur für Leserbriefe zuständig ist, Leserdiskussionen im zeitungseigenen „Forum“ organisiert und Leserumfragen startet, sondern als „Rollende Redaktion“ auch durch das Verbreitungsgebiet der acht Lokalausgaben fährt.6 „Wenn unser Bus nach Ankündigung in der Zeitung an einem Ort auftaucht, kommen die Leser mit ihrer Zeitung und untereinander ins Gespräch“, berichtet SZ-Redakteur Thomas Feilen.

Dieselbe Erfahrung macht man beim „Südkurier“ in Konstanz mit der „Sommer-Redaktion“. Einmal jede Woche in den Sommermonaten begeben sich drei Redakteurinnen und Redakteure der Zeitung für einenNachmittag oder Abend nach draußen. „Wir gehen dorthin, wo ein Thema diskutiert wird“, sagt Lokalchef Tobias Engelsing. „Es geht darum, direkte Kontakte herzustellen.“

Doch unter dem Sonnenschirm wird oft nicht nur hitzig diskutiert – egal ob es um längere Öffnungszeiten für Gartenlokale oder Verkehrsberuhigung geht. Die Leser erleben auch, wie ein Artikel mit ihren Meinungen auf der Schreibmaschine entsteht und können ihn am nächsten Morgen im „Südkurier“ lesen. „Das ist natürlich aufwendig“, gibt Engelsing zu, „aber die Resonanz ist enorm.“

Am Bodensee hat man auch positive Erfahrungen gemacht mit anderen Formen, die Leserinnen und Leser direkt in der Zeitung zu Wort kommen zu lassen. In der „Südkurier-Schreibwerkstatt“ schreiben Jugendliche selbst Artikel über Themen ihrer Wahl. Apropos Wahl: Der Fragenkatalog zur letzten Oberbürgermeisterwahl in Villingen-Schwenningen wurde in einer Leseraktion aufgestellt und von den Kandidaten in der Zeitung beantwortet. An einer Podiumsdiskussion des „Südkuriers“ mit den Kandidaten nahmen über 500 Personen teil, dann konnte per Coupon „Wahltoto“ getippt werden, und nach dem Urnengang fand eine Wahlparty der Zeitung statt. Umfragen gibt es nicht nur zu politischen Themen. Die Mehrheit von 2500 Lesern votierte per „Südkurier“-Stimmzettel für die dauerhafte Aufstellung eines umstrittenen Kunstwerkes. Daneben organisiert die Zeitung selbst Kunst-Auktionen oder initiiert Hilfsaktionen, über die bis zum Nachweis der Verwendung der Spendengelder kontinuierlich berichtet wird.

Natürlich sind das alles keine neuen Themen, sondern nur eine neue Herangehensweise an die lokaljournalistische Zeitungsarbeit. „Wirklich neue Themen gibt es kaum“, meint denn auch Thomas Gierse, Redakteur der „Drehscheibe“ der Initiative Tageszeitung (ITZ). „Es geht vielmehr darum, bekannte Sujets zu variieren.“ Gierse hat den Überblick:Für die Dienste7 der ITZ wertet er regelmäßig mehrere Dutzend Tageszeitungen im Hinblick auf beispielhafte Artikel aus. „Wer nach neuen Themen sucht, also anderen als den bisherigen, braucht oft nur seinen Standpunkt zu wechseln“, rät er Lokaljournalisten. Hier einige Beispiele aus der Ideensammlung der „Drehscheibe“:

Den Standpunkt wechseln kann man beispielsweise durch Rollentausch: Nicht der Journalist interviewt die Bürgermeisterin, sondern umgekehrt – und die Leser erhalten einen Insider-Blick in die Redaktion. Die Ratssitzung dauert wieder einmal Stunden. Wie wäre es mit einem Stoppuhr-Test der Länge der Redebeiträge? Angst bei Prüfungen: Wie fühlen sich eigentlich die Prüfer?

Vorurteile können übernprüft werden: Mediziner verdienen gut. Aber was ist mit denjenigen, die nach dem Studium keine Stelle finden? Obdachlose interessieren sich nicht für Politik. Wie erhalten sie eine Wahlbenachrichtigung, wenn sie wählen gehen wollen? Den Spatz gibt es doch überall. Warum steht der Sperling dann mancherorts auf der RotenListe?

Oft bringt das Beleuchten von Ausschnitten „alter“ Themen neue Sichtweisen: Berichtet wird über Ratssitzungen und Fraktionsstellungnahmen. Was ist aber zum Beispiel mit den Frauen im Rat? Machen sie dieselben Erfahrungen mit ihren männlichen Kollegen? Müssen sie sich (gemeinsam) gegen sie durchsetzen? Pflichttermin ist der Besuch einer auswärtigen Delegation beim Bürgermeister. Was macht man im Rathaus eigentlich mit den Bergen von Gastgeschenken? Berichte über Vereinsehrungen gehören zur Chronistenpflicht. Doch was ist mit dem Nachwuchs im Verein? Hat er eine Chance, seine Belange durchzusetzen?Oder: Warum finden einzelne Personen im Verein ihre Lebensaufgabe?

Der Alltag ist oft interesnsanter als man denkt:Wie arbeitet es sich in der Verwaltung auf Büromöbeln aus den 50er Jahren? Trinkkultur am Arbeitsplatz:Jeder hat seine individuelle Kaffeetasse. Wie sieht es eigentlich unter den Straßen in der Kanalisation der Stadt aus? Wann wird säumigen Zahlern von wem der Strom abgestellt? Welche Erfahrungen macht der Gerichtsvollzieher an der Haustür? Das Thema „jung und alt“ bietet mehr als Rentendiskussion und Senioren-Kaffeenachmittage: Was denken Kinder beispielsweise über ihre Großeltern? Wie wohnt es sich mit mehreren Generationen unter einem Dach?

Der Kontakt zu den Leserinnen und Lesern bietet viele neue Ansätze:

Neben „rollenden Redaktionen“ und Schreibwerkstätten gab es beispielsweise bei den „Lübecker Nachrichten“ die Leser-Aktion „Der Held von nebenan“ zur guten Nachbarschaft, den gemeinsam von Lesern geschriebenen Krimi bei der „Saarbrücker Zeitung“ und bei vielen Lokalzeitungen mittlerweile Schulseiten, die von den Schülern selbst geschrieben werden. Neue „Mitarbeiter“ für die Redaktion kann man auch über Volkshochschulkurse für Hobby-Journalisten oder durch gemeinsame thematische Aktionen mit Verbänden (Beispiel: Aktion Fassadenbegrünung der „Rhön- und Saalepost“ mit dem örtlichen BUND) gewinnen.

Fazit: Es gibt kaum wirklich neue Themen. Aber es gibt viele noch zu selten genutzte Möglichkeiten, „alte“ Themen anders anzugehen und damit Journalisten und Lesern neue Blickwinkel aufzuzeigen. Auch für die Beteiligung der Leserinnen und Leser an der Erstellung ihrer Zeitung gibt es zahlreiche Beispiele. Allerdings: „Qualität kostet Geld“, gibt „Südkurier-Lokalchef“ Tobias Engelsing unumwunden zu. „Aber es lohnt sich für die Zeitung.“ Nötig ist auch Zeit, die bei den Lokalredakteurinnen und -redakteuren durch die Arbeit mit den neuen Ganzseiten-Redaktionssystemen kaum noch vorhanden ist.“Die Qualität journalistischer Arbeit ist massiv gefährdet durch berufsfremde Tätigkeiten, die mehr und mehr in die Redaktion verlagert werden; durch den Zwang, mangels Zeit für aufwendige eigene Recherchen immer mehr Termin-Journa-lismus zu betreiben …“, hatte die Deutsche Journalisten-Union (dju) bereits vor acht Jahren in ihren „Thesen zum Lokaljournalismus“8 festgestellt und unter anderem eine bessere personelle Ausstattung der Redaktionen gefordert. Die Entwicklung war und ist gegenläufig. Schlechte Zeiten also für „neue Themen“ im Lokalen? Wenn die lokale Tageszeitung im Zeitalter digitaler Medien eine Zukunft haben soll, muß sie auf journalistische Qualität setzen. Das verkünden auch Verleger vollmundig in der Öffentlichkeit. Ihr Handeln in den Redaktionen sieht meist anders aus.


 

  1. Projektteam Lokaljournalisten (Hg.): ABC des Journalismus, 4. Aufl., München 1986, Verlag Ölschläger (Reihe Praktischer Journalismus), S. 327.
  2. vgl. Siegfried Weischenberg/Martin Löffelholz/Armin Scholl: Journalismus in Deutschland, veröffentlicht in Media Perspektiven 3/94; zu den Zahlen im folgenden auch:Martin Löffelholz: Lokaljournalisten – Sie vertreten die Linie des Hauses, in: Sage &Schreibe Special 2/94, S. 32f.
  3. Daten und Fakten zum Zeitungsmarkt 1995, Beilage zum iw-Medienspiegel 46/95.
  4. Lars Rinsdorf:Wer liest? Leserschaftsforschung im Lokalen, unveröff. Vortragsmanuskript, mct media consulting team, Dortmund.
  5. Christoph Berdi / Alexander Ebert / Gerrit Faust/Thorsten Garber:Hauptsache gut aufgesetzt?! Qualität und Qualitätsur-teile im Lokalen am Beispiel der Stadt Lünen, unveröff. Diplomarbeit am Institut für Journalistik an der Universität Dortmund, 1992 (vgl. M 2/95).
  6. Diese und die folgenden Beispiele wurden berichtet auf dem Seminar „Neue Themen im Lokalen“ vom 22. bis 24. 11. 1995 in Mainz, das gemeinsam von der Fachgruppe Journalismus in der IGMedien und der Evangelischen Medienakademie/cpa Frankfurt organisiert wurde. Für die Überlassung ihrer Materialien möchte ich mich bei den Referenten bedanken.
  7. Die ITZ gibt 14täglich den Pressedienst Drehscheibe „aus Lokalredaktionen – für Lokalredaktionen“ und mindestens sechsmal im Jahr das Drehscheiben-Magazin heraus. Über den Datenbank-Service können sich Abonnenten kostenlos Ideenlisten für Recherchethemen faxen lassen. Das Paket-Abo kostet 70 DM (für ITZ-Mitglieder 60 DM) im Monat, für freie Journalisten 35 Mark. Lokalredaktionen, deren Verlag ein Hauptabo hat, zahlen pro Zusatzabo nur 9,80 DM (alle Preise plus Porto, Versand und 7 % MwSt). Anschrift: Initiative Tageszeitung, Postfach 300761, 53187 Bonn, Tel. 0228/463917, Fax 477667.
  8. abgedruckt in: die feder 1/88, S. 13
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