Online-Journalismus gewinnt Konturen

Kaum eine Tageszeitung, eine Radiostation, ein TV-Sender verzichtet noch auf eine eigene Online-Redaktion. Zunehmend gibt es auch „Zeitungen“, Radio- und Fernsehsender nur im Netz. Ist das der Beginn eines neuen Journalismus?

Sieben Jahre Gefängnis: Das war die Strafe für Miroslav Filipovic´. Ende Juli wurde er in der südserbischen Stadt Nis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm „Verbreitung von Falschinformation“ und „Spionage“ vorgeworfen. Er hatte jugoslawische Soldaten über ihren Einsatz im Kosovo befragt und darüber Presseberichte verfasst. Inzwischen ist Filipovic auf freiem Fuß.

Filipovic ist kein gewöhnlicher Reporter. Er ist Internet-Journalist. Kurz vor seiner Verurteilung hat ihn eine Jury aus 50 europäischen Kollegen zum „Europäischen Online-Journalisten des Jahres“ gewählt. Seine Berichte hatte er auf der Internet-Seite des „Institute for War and Peace Reporting“ (www.iwpr.net) veröffentlicht.

Es ist nicht lange her, da hätte das Belgrader Regime über Reporter wie Filipovic problemlos hinwegsehen können. Dass es sich genötigt sah, seine Justizmaschinerie in Gang zu setzen und solch ein drakonisches Urteil auszusprechen, zeigt auf zynische Weise, welche Bedeutung die Berichterstattung via Internet inzwischen erlangt hat. Auch in der demokratischen Welt lässt sich der Online-Jounalismus kaum noch ignorieren. Schon acht Millionen Deutsche nutzen das Internet täglich, weitere 10 Millionen loggen sich gelegentlich ein. Die Seitenaufrufe von größeren Online-Zeitungen gehen monatlich in den zweistelligen Millionenbereich. „Das Internet steht an der Schwelle zur Akzeptanz als Massenmedium“, sagt Mathias Müller von Blumencron, „Spiegel“-Korrespondent in New York.

Spätestens seit der Übernahme des Mediengiganten Time-Warner durch den Onlinedienst AOL hat auch der verschlafenste Zeitungsmann begriffen, was da am Horizont heraufgezogen ist. Kaum eine Zeitung, kaum eine Radiostation, kaum ein TV-Sender verzichtet noch auf eine eigene Online-Redaktion. Folgerichtig hat sich die Zahl der Journalisten, die in den Neuen Medien arbeiten, innerhalb der letzten drei Jahre auf annähernd 1.000 verdreifacht.

Demnächst wird auch Müller von Blumencron dazugehören. Ab dem 1. Dezember leitet der Wirtschafts-Experte die „Spiegel online“-Redaktion. „Während meiner Jahre in den USA ist mir klar geworden, dass dem Online-Journalismus absolut die Zukunft gehört,“ sagt Müller von Blumencron. Das Internet sei ständig in Bewegung, im Print-Bereich dagegen vieles statisch und festgefahren. „Ich habe nicht lange gezögert, ja zu sagen.“

Wie Müller von Blumencron hatte auch der langjährige Ressortleiter des G+J-Wirtschaftsmagazins „Börse online“, Horst Fugger, einen sicheren und gutbezahlten Job, bevor er ins Internet wechselte. Vor einem Jahr wurde der Aktienspezialist und Buchautor Chef des Börseninformationsdienstes fnet.de. „In der Börsenberichterstattung ist das Internet den gedruckten Medien meilenweit voraus“, sagt Fugger. Es war Abenteuerlust, die den 40-Jährigen zum Wechsel ins neue Metier getrieben hatte, dazu der Wunsch, etwas ganz Neues anzufangen – was sich aber nur teilweise erfüllt hat: „Vom Journalistischen her unterscheiden sich Print und Online gar nicht so sehr“, sagt Fugger.

Tatsächlich hat sich ein „neuer Journalismus“, wie er Mitte der 90er Jahre vor allem von den Amerikanern prophezeit wurde, bisher noch nicht herauskristallisiert. Nach wie vor beschränkt sich die Mehrzahl der journalistischen Angebote im Internet darauf, Agenturmeldungen mehr oder weniger unverändert ins Netz zu stellen, fand der Eichstätter Medienforscher Christoph Neuberger bei einer Befragung von 187 Online-Redaktionsleitern heraus. „Dennoch gewinnt der Online-Journalismus Konturen“, sagt Neuberger und verweist auf die Magazine, die ausschließlich elektronisch erscheinen („E-Zines“). „Dort werden die Möglichkeiten, die das Internet bietet, noch am ehesten ausgeschöpft“, sagt Neuberger.

Zeitungen, die nur im Netz erscheinen

Mit Spannung erwartet wird vor allem der Start der Berliner „Netzeitung“. Sie soll noch im Herbst gelauncht werden und will „Deutschlands erste ausschließlich im Internet erscheinende Tageszeitung“ sein. Büros in Berlin und Frankfurt wurden bereits angemietet, als Chefredakteur wurde kein Geringerer als Michael Maier, ehemals Chef von „Berliner Zeitung“ und „Stern“, verpflichtet. Für das Design wird Lukas Kircher, früher Grafikchef beim „Stern“, zuständig sein.

Auch die Webseite der „Zeit“ schmückt sich seit kurzem mit prominenten Namen. Mit-Herausgeber Josef Joffe und Ex-Chefredakteur Robert Leicht schreiben neuerdings eine tägliche Polit-Kolumne, Literatur-Veteran Fritz J. Raddatz stellt einmal pro Woche ein berühmtes Gedicht vor. „Bei uns sind es vor allem die älteren, erfahrenen Redakteure, die sich ins Internet stürzen“, sagt Internet-Redakteur Lorenz Lorenz-Meyer, räumt aber ein: „Noch vor ein, zwei Jahren wäre es viel schwerer gewesen, die Herren für die Online-Ausgabe zu gewinnen.“

Anders in den USA: Dort zieht es gestandene Print- oder Fernseh-Journalisten bis hin zu Pulitzer-Preisträgern schon länger ins Netz. So wechselte Watergate-Enthüller Carl Bernstein zum Politik-Dienst „voter.com“ und Golfkriegsreporter Peter Arnett zum Web-Fernsehsender „foreigntv.com“.

Bekannte Autoren nun auch im Netz

„Das war ein wichtiges Signal für die Branche“, sagt der Hamburger Internet-Experte Stefan Heijnk, bis Oktober Dozent an der Hamburger Akademie für Publizistik und Berater zahlreicher Online-Redaktionen. „Dass der Internet-Journalismus in Deutschland bisher nicht so recht vorangekommen ist, hatte auch damit zu tun, dass sich bekannte Autoren dem neuen Medium lange verweigert haben.“

Dabei ist gerade mal ein halbes Jahrzehnt vergangen, seit die ersten deutschen Tageszeitungen eigene Seiten ins Netz stellten. Um Geld zu sparen, saß in den meisten neu geschaffenen Online-Redaktionen zunächst nur ein einziger Redakteur, der gleichzeitig Texter, Bildredaktur, Layouter und Programmierer sein musste – und dafür oft auch noch weniger Geld als die Print- oder Hörfunkkollegen bekam. „Wir galten als Spinner, als durchgeknallte Freaks“ erinnert sich Pionier Ralf Schloßmacher, der 1995 den Internet-Auftritt der „Rheinischen Post“ mit aufbaute.

Anerkennung durch Preise und Exklusiv-Interviews

Inzwischen kann man mit Internet-Texten sogar Preise gewinnen. Erst kürzlich hat der Heinrich-Bauer-Verlag seine „Goldene Feder“ zum ersten Mal auch für die Sparte „Internet“ vergeben. Im nächsten Jahr sollen journalistische Höchstleitungen im Web sogar mit einem Grimme-Preis geehrt werden.

Bundesminister geben Online-Reportern Exklusiv-Interviews, Parteichefs stellen sich den Wählern in Chat-Shows. Internet-Redakteure werden inzwischen vielerorts zu Ressortleiterkonferenzen eingeladen, und sogar die ehrwürdige Bundespressekonferenz nimmt neuerdings Online-Journalisten auf.

Nicht zuletzt deshalb hat sich der Online-Journalismus zu einem echten Trend-Beruf entwickelt. Für viele Berufseinsteiger ist die Internet-Redaktion eine echte Karriere-Alternative. Trotzdem haben die meisten Redaktionen Probleme, Mitarbeiter zu finden – denn Quereinsteiger haben inzwischen kaum noch eine Chance. Genau wie in den etablierten Medien wird immer häufiger Wert auf Hochschulzeugnisse und abgeschlossene Volontariate gelegt.

Neue Ausbildungsangebote

Auch die Journalistenschulen und Medien-Fakultäten an den Universitäten haben ihre Unterrichtspläne überarbeitet und räumen dem Internet-Texten und dem Gestalten von Webseiten breiten Raum ein. Fortbildungs-Einrichtungen wie das „Haus Busch“ oder die „Akademie für Publizistik“ melden regelmäßig ausgebuchte Seminare. Spezielle Online-Volontariate, wie sie einige Redaktionen – neuerdings auch der NDR und Gruner + Jahr – anbieten, sind inzwischen fast so begehrt wie konventionelle Medien-Ausbildungsplätze.

„Grenzen zwischen PR und Journalismus werden fließend“

Dabei ist noch immer nicht sicher, wer den Online-Journalismus eigentlich auf Dauer finanzieren wird. Nach wie vor fährt fast jede Redaktion Verluste ein – wie lange sich die Verleger das noch mit ansehen, weiß niemand. Nicht zuletzt deshalb können immer weniger Redaktionen der Versuchung widerstehen, Geld mit lukrativen E-Commerce-Geschäften zu machen. Selbst die „New York Times“ musste schon einräumen, Werbung und Inhalt auf ihrer Webseite nicht deutlich genug getrennt zu haben. „Im Internet ist die Gefahr noch größer, dass allgemeine journalistische Normen vernachlässigt werden“, sagt Medienforscher Neuberger und prophezeit: „Grenzen zwischen PR und Journalismus werden fließend.“

Dass es bereits „zu spät“ sei für eine „strikte Trennung zwischen Geschäft und Redaktion“, hat der stellvertretende „Spiegel“-Chef Martin Doerry kürzlich auf einer Podiumsdiskussion behauptet. Einen Verhaltenskodex für Netzjournalisten sei schon jetzt nicht mehr durchsetzbar. Das sieht Mathias Müller von Blumencron ganz anders. Er legt auf die strikte Trennung von Inhalten und E-Commerce großen Wert: „Das erwarten die Leute von der Marke ,Spiegel‘.“ Und am Ende werde sich „ohnehin – offline wie online – Qualität durchsetzen“, sagt Müller von Blumencron. Das deute sich schon jetzt immer wieder an.

Als „Spiegel online“ zum Beispiel kürzlich eine Reihe brisanter Dokumente aus der CDU-Affäre ins Netz stellte, hätten das „die Leute angeklickt wie sonst ein Bild von Brigitte Bardot im BH“, sagt Müller von Blumencron, und korrigiert sich gleich: „Besser gesagt: Wie ein Bild von Brigitte Bardot ohne BH.“

 

 

 

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