Reporter contra Allround-Journalisten

Deutscher Recherchejournalismus im internationalen Vergleich

Die amerikanische Presse ist geprägt vom investigativen Journalismus und versteht sich als Kontrollinstanz der Politik. Über dieses legendenumrankte Klischee können amerikanische Journalisten mittlerweile am lautesten lachen. Dennoch unterscheidet sich der US-Journalismus in zwei Punkten deutlich vom deutschen.

Zum einen macht sich dort die vierte Gewalt regelmäßig zur fünften, in dem sie sich mit demselben Enthüllungseifer gegen sich selbst richtet, wie gegen andere. Das letzte Beispiel dafür ist die vor sechs Monaten gegründete, medienkritische Zeitschrift „Brill’s Content“, die sich monatlich auf über 200 Seiten mit journalistischen Verfehlungen beschäftigt. Eine ähnliche Bereitschaft zur brancheninternen Medienkritik ist in Deutschland nicht in Ansätzen zu beobachten.

Ähnliches gilt für den Investigativjournalismus. Befreit man ihn von seinem mythologischen Dekor, kann man ihn mit Recherchejournalismus gleichsetzen. Hier fällt ausländischen Journalisten jedoch ebenfalls eine gewisse Zurückhaltung auf. Der Deutschland-Korrespondent der Londoner „Times“, Roger Boyles, erklärt: „Deutsche Zeitungsjournalisten scheinen sehr abhängig zu sein von den Presseagenturen. Viele Artikel, die unter ihrem Namen erscheinen, sind identisch mit dpa- oder deutschen AP-Reports vom Vortag. Wenn es einen Unterschied gibt, dann den, daß der Journalist seine Meinung hinzugefügt hat – ohne eigene Recherche.“ Sein amerikanischer Kollege Brendon Mitchener von der „International Herald Tribune“ stimmt zu: „Sehr viele Zeitungsartikel beinhalten keine eigene Recherche, sondern sind weitgehend unkritisch. Mit wenigen Ausnahmen halte ich die Journalisten für zu passiv und vielleicht auch etwas faul. Sie sind immer gut informiert, aber auch obrigkeitshörig. Ausnahmen sind „Spiegel“ und „Bild“, die sich auf ganz unterschiedliche Weise bemühen, ihren Lesern mehr zu bieten.“ Diese kritischen Einschätzungen wurden kürzlich durch eine international vergleichende Studie von Thomas Patterson (Harvard) und Wolfgang Donsbach (Dresden) wissenschaftlich bestätigt. Ihre Befragung deutscher, britischer und amerikanischer Journalisten ergab, daß in Deutschland nur 21 Prozent der Journalisten „sehr viel Zeit“ mit Berichten auf der Grundlage persönlicher Recherche verbringen. In Großbritannien und den USA sind es mehr als doppelt so viele (48 bzw. 44 Prozent). Bei der Frage „Welche Informationsquellen haben Sie in Ihrem letzten Bericht genutzt?“ zeigte sich, daß britische und amerikanische Journalisten häufiger Gespräche mit Experten, Augenzeugen und Organisationen geführt sowie Straßeninterviews und Umfragedaten genutzt haben. Die deutschen Journalisten hatten dagegen häufiger Agenturmeldungen und Pressemitteilungen benutzt: 57 Prozent gaben an, sich in ihrem letzten Bericht auf Agenturen verlassen zu haben. Bei den Briten waren es nur 24 und bei den Amerikanern 29 Prozent. Auch auf die Frage, was einem Orientierungshilfen bei den täglichen Nachrichtenentscheidungen gebe, sagen die deutschen Journalisten deutlich häufiger als ihre amerikanischen Kollegen (89 zu 64 Prozent), die Nachrichtenagenturen seien „sehr“ oder „ziemlich wichtig“.

Nicht nur investieren deutsche Journalisten weniger Zeit in Eigenrecherche, sie lehnen harte, investigative Methoden auch stärker ab als ihre angelsächsischen Kollegen (siehe Tabelle). Wie die amerikanischen sind auch britische Journalisten viel eher als deutsche bereit, hart und skrupellos zu recherchieren. Aus ihrem Antwortverhalten spricht das unerschütterliche Selbstbewußtsein, sich als Vierte Gewalt zu verstehen. Die deutsche Situation sieht anders aus. „Methoden des investigativen Journalismus scheinen im deutschen Journalismus nach wie vor auf Zurückhaltung zu stoßen“, meint der Münsteraner Publizistikprofessor Siegfried Weischenberg. „Im internationalen Vergleich erweisen sich die deutschen Medienakteure bei ihren Einstellungen zu Recherchenmethoden als geradezu ängstlich und schüchtern“.

Deutsche Journalisten würden sich im Zweifelsfall immer eher für ethische Normen entscheiden. Angelsächsische Journalisten verstehen sich viel stärker als Anwälte der Öffentlichkeit, die auch vor Enthüllungen aus dem Intimleben eines Politikers nicht halt. machen. Allerdings wird bei ihnen auch das Dilemma des Enthüllungsjournalismus zwischen politischer Notwendigkeit und ethisch fragwürdigem, wettbewerbsorientiertem Sensationalismus deutlich. Die Grenzen zwischen legitimer Enthüllung und fragwürdigem Exzeß sind schmal, wie in den USA zuletzt der Clinton/Lewinsky-Fall und in Großbritannien die Outing-Orgie der Boulevardpresse über Parlamentsabgeordnete zeigte.

Was blockiert den investigativen Recherchejournalismus in Deutschland? Darauf hat Thomas Leif im Vorwort seines jüngsten Buches „Leidenschaft Recherche“ (siehe M 12/98) eine Antwort gesucht. Er nennt hier Negativimpulse von Politikern (kritischer Journalismus wird quer durch die Lager als Schweine-, Gossen-, Schmeißfliegen- oder Hinrichtungsjournalismus bezeichnet); Negativimpulse aus der Wirtschaft (durch immer professionellere und dreistere PR wird Journalismus korrumpiert); Negativimpulse aus der eigenen Branche (journalistische Fakes, Bekenntnis zum Beliebigkeitsjournalismus, zu „news you can use“ und zu sensationsorientierten Scheinenthüllungen ohne soziale Relevanz) sowie Negativimpulse der Vorgesetzten (die einerseits Kostenkontrolle predigen, andererseits mehr für Layout, Studiodekorationen und Marktforschung ausgeben als für Autoren). All diese Punkte sind sicherlich zutreffend, gelten allerdings für Großbritannien und die USA kaum weniger. Darüber hinaus wird häufig darauf verwiesen, daß die amerikanischen Kollegen verfassungsrechtlich besser abgesichert sind (First Amendment), großzügigeren Informationsanspruch genießen (Freedom of Information Act) und weniger Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte nehmen müssen (Grundsatzentscheid Sullivan vs. „New York Times“). Auch diese Begründung wirkt nicht völlig überzeugend, weil die britischen Kollegen all diese Rechtsprivilegien nicht genießen und trotzdem häufiger und härter recherchieren als die deutschen Journalisten.

Überzeugender ist die Annahme, daß grundlegende strukturelle Bedingungen wie die Geschichte der Pressefreiheit, journalistische Tradition und gewachsene politische Kultur eine zentrale Rolle spielen. Allerdings lassen sich diese Faktoren nicht unmittelbar verändern, dies sind langfristige Aspekte der Zeitgeschichte. Dennoch zeigt der internationale Vergleich, daß sich mit drei Veränderungen eine Verbesserung der Recherchebereitschaft im deutschen Journalismus erzielen lassen müßte.

Als erstes müßte die Berufsrolle der reinrassigen Reporter als konstituierendes Element von Regionalzeitungen fest verankert werden. In England und USA zeichnen sich selbst kleine Redaktionen durch ein hohes Maß an Arbeitsteilung aus, so daß sich die vielen hauptberuflichen Reporter vollzeitig auf die Informationsbeschaffung konzentrieren können. An den langen Reportertischen der „newsrooms“ wird ausschließlich recherchiert und geschrieben. In Deutschland herrschte nie ein arbeitsteiliges, sondern ein eher ganzheitliches Verständnis journalistischer Tätigkeit vor. In hiesigen Zeitungsredaktionen konnte sich der Informationen recherchierende Reporter nie als eigenständiges Berufsbild etablieren. Deutsche Redakteure sind eher Allround-Journalisten, die unter anderem auch recherchieren (sofern Zeit bleibt). Erst in den vergangenen Jahren haben angesichts des verschärften intermediären Wettbewerbs mehrere deutsche Regionalzeitungen sogenannte Reporter-Pools eingerichtet, um das so lange vernachlässigte Recherche-Element zu stärken.

Der zweite Ansatz für deutsche Verbesserungen dürfte in der Ausbildung liegen. Die intensive Rechercheschulung muß in der inner- und überbetrieblichen Aus- und Weiterbildung Priorität erhalten. Während die journalistischen Ausbildungsofferten in Großbritannien nicht unbedingt wegweisend sind, gibt es in den USA mid-carrer-Programme, für die sich Redakteure – z.B. mit einem Nieman Fellowship – ein Jahr freistellen lassen können, um an einer universitären Journalistenschule – z.B. in Harvard, Stanford, Michigan – oder einem spezialisierten Institut – z.B. American Press Institute oder Poynter Institute – „Nachschulung“ zu betreiben. Mit so ausgebildeten Journalisten, die zudem lange als Reporter gearbeitet haben, besetzen investigativ ausgerichtete Tageszeitungen wie die „Washington Post“, der „Philadelphia Enquirer“ oder „Newsday“ ihre Recherche-Einheiten.

Den dritten Weg betont Thomas Leif in seinem Buch, dessen Titel bereits Programm ist. Angesichts der ungünstigen strukturellen Voraussetzungen für Recherchejournalismus in Deutschland setzt er auf die Persönlichkeit und den Arbeitsstil des Einzelnen. Er fordert berufliches Ethos, Leidenschaft und Tugenden wie Hartnäckigkeit, Ausdauer und Kontaktfähigkeit. Indem sein Buch erfolgreiche „Enthüllungen“ der Republik vorbildhaft nachzeichnet, will er seine Kolleginnen und Kollegen am persönlichen Gewissen und beruflichen Ehrgeiz packen. Schließlich kann eine vielbeachtete Investigativstory sehr karrierefördernd sein. Diese Strategie ist so falsch nicht, allerdings muß man weniger die Kollegen von den Vorteilen aufwendiger Nachforschungen überzeugen, sondern die Chefredakteure und Verleger! Sie müssen bereit sein, in seriösen, hartnäckigen Recherchejournalismus im Sinne einer publizistischen Strategie zu investieren. Exklusivberichte, Journalistenpreise und publizistisches Renommee muß eine Verlagsleitung erlangen wollen. Nur dann schafft sie notwendige redaktionelle Strukturen, zum Beispiel durch Freistellungen vom Arbeitsalltag für einzelne Redakteure. So scheinen es ironischerweise die Chefredakteure und Verleger zu sein, an die man appellieren muß.

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