Der Spiegel auf dem Weg von Seehofers Hobbykeller in Giulianis Hotelzimmer
Der Spiegel hat die Wahrheit nicht für sich gepachtet. Aber er sucht danach“, lässt sich Chefredakteur Klaus Brinkbäumer auf Werbeplakaten seines Nachrichtenmagazins zitieren. Wie genau er und seine Journalisten nach der Wahrheit „suchen“, mag der Spiegel-Boss aber zuletzt nicht sagen – als bei einem Artikel Zweifel am Erfolg der „Suche“ bestehen.
Zweifel, die ähnlich bei Spiegel-Berichten schon früher mal aufkamen: Schlagzeilen-trächtig war einst eine privat anmutende Reportage über CSU-Mann Seehofer, preisgekrönt. Als sich herausstellte, dass der Spiegel-Autor nie am Ort des angeblichen Geschehens war, dem Modellbahnkeller im Seehoferschen Eigenheim, wurde die Auszeichnung aberkannt. Das Hamburger Abendblatt diagnostizierte „Betrug an der Wahrheit“, während ein Spiegel-Führender betonte, er erachte seinen phantasievollen Reporter für „untadelig“.
Kürzlich nun suggerierte ein ausweislich der Artikelkennung zehnköpfiges Team des Spiegel, beim Hamburg-Besuch der ehemaligen italienischen Senatorin Haidi Giuliani zum G20 ganz dicht dran gewesen zu sein. An der Mutter des beim Staatschef-Gipfel 2001 in Genua von der Polizei getöteten Carlo Giuliani: „Sie sah den Rauch, den Tumult, die Einsatzwagen aus sicherer Entfernung von ihrem Hotelzimmer am Hamburger Hauptbahnhof aus“, schreibt der Spiegel. Und die Spiegel-Leute wissen auch über die Demos in der Stadt zu berichten: „Sie (Giuliani) selbst marschierte nicht mit.“
Tatsächlich war Giuliani in den Tagen der Auseinandersetzungen gar nicht mehr in Hamburg: als Aktivisten brennende Barrikaden errichtet hatten, deren „Rauch“-Säulen weithin über der Stadt sichtbar waren – am 7. Juli, gegen 20 Uhr. Giuliani: „Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit meinem Hund Gassi gegangen, in Genua. Während meines Aufenthalts in Hamburg habe ich zu keinem Zeitpunkt Tumult oder Rauch gesehen, auch nicht von meinem Hotelzimmer aus.“ Giuliani war vom Abend des 4. Juli bis zum Morgen des 6. Juli in Hamburg. In dieser Zeit gab es nachweislich keine größeren Konfrontationen, keinen „Tumult“, keinen „Rauch“. Und in den vierzig Stunden ihrer Stippvisite an der Alster verschanzte sich „Italiens Mutter Courage“ (Frankfurter Rundschau) auch nicht in ihrer Herberge: Die 73-jährige gab Interviews, traf Aktivisten. Und sie trat bei einer Lesung des Literaturfestivals „Lesen ohne Atomstrom“ auf – der Anlass, warum Giuliani nach Hamburg kam. Sie stand dabei mit mehr als einem Dutzend Künstler_innen und Autor_innen wie Auma Obama, Vandana Shiva, Günter Wallraff, Urban Priol oder Konstantin Wecker auf der Bühne.
Und: Giuliani „marschierte“ in Hamburg. Am Abend des 5. Juli führte sie eine Demonstration an, die vor den G20-Tagungsort zog. In der ersten Reihe trug die schmale Frau gemeinsam mit den Künstlern das Banner. 3.000 Menschen folgten, der „Marsch“ wurde live im Internet übertragen, viele Medien berichteten. Ausgerechnet ein Kamerateam von Spiegel TV filmte die „marschierende“ Giuliani, minutenlang.
Für Ex-Deutschlandfunk-Chefredakteur Rainer Burchardt sind die Spiegel-Darstellungen zu Giuliani „Fake News“. „Diese systematischen Erfindungen des Spiegel sind handwerklich desaströs. Und sie sind auch heikel, weil solche Inszenierung von Journalismus das Vertrauen in die Medien untergräbt“, so der Kieler Medienprofessor.
„Die Wahrheit von Haidi Giulianis Hamburg-Besuch ist völlig anders als das was der Spiegel sich ausgedacht hat“, sagt Frank Otto für die „Lesen ohne Atomstrom“-Organisatoren. Der Medienunternehmer ist seit mehr als 20 Jahren im Vorstand des Hamburger Presseclubs: „Mindestens zwei der Darstellungen zu Haidi Giuliani sind frei erfunden. Warum ergeht sich der Spiegel in wilder Phantasie während die grad vom Spiegel unablässig beschworene „Wahrheit“ doch hier so unendlich viel spannender war?“
Diese Frage wollten Otto und seine Festival-Mitstreiter mit Chefredakteur Klaus Brinkbäumer besprechen – vergeblich. Erst nach Wochen kam eine offizielle Stellungnahme. Bei der falschen Darstellung des vermeintlichen Giuliani-Blicks aus dem „sicheren“ Hotelzimmer handele es sich um ein „Missverständnis“, „bedauerlich“ – entstanden bei einem Telefonat des Spiegel mit Giuliani eine Woche nach deren Hamburg-Besuch. Aber: „Ob die sichere Entfernung nun ein Hotel (in Hamburg, d. Red.) oder ihr Zuhause (in Genua, d. Red.) war, scheint (…) zweitrangig“, meint der Spiegel. Auch die falsche Darstellung des Nicht-Demonstrierens sei „bedauerlich“, diese Angabe beruhe auf einer Aussage von Guiliani selbst – weshalb, so der Spiegel, in dem Artikel auch „folgerichtig indirekte Rede“ verwendet worden sei. Ein gravierendes „Missverständnis“ der Grammatik: „Sie selbst marschierte nicht mit“ ist unstreitig nicht indirekte Rede. Abschließend ist der Spiegel aber überzeugt: „Im Gesamtzusammenhang werden keine relevanten Handlungen oder Haltungen von Frau Giuliani unterschlagen.“
Oliver Neß ist Journalist und Sprecher des Literaturfestivals „Lesen ohne Atomstrom“.
Die Langfassung des Beitrags mit dem dokumentierten Brief des Spiegels