Tapetenwechsel

Journalistisches Arbeiten diesseits und jenseits der Alpen

Sie sind immer pünktlich, immer korrekt und immer pflichtbewusst – typisch deutsch. Sie sind leidenschaftlich, immer schick angezogen und immer gut gelaunt und fröhlich – typisch italienisch. Deutsche kennen die Italiener und die Italiener kennen die Deutschen – soweit die Theorie. Doch sind es oftmals Klischees, die die Sicht auf den Nachbarn prägen. Das möchte das Goethe-Institut mit seinem Projekt „Va bene?!“ ändern – und schickt deshalb deutsche Journalisten nach Italien und italienische nach Deutschland.

Unter dem Motto „Tapetenwechsel“ tauschen Zeitungsredakteure und Radiojournalisten jeweils für vier Wochen ihre Arbeitsplätze und lernen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Gaststadt und -redaktion kennen. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, dass wir die große Decke der Vorurteile und Stereotypen lüften und die vielen kleinen faszinierenden Mosaiksteine zum Vorschein bringen, die beide Länder gleichermaßen ausmachen“, sagt Susanne Höhn, Länderleiterin des Goethe-Instituts in Rom. Ziel sei es, „Lust auf die Wiederentdeckung beider Länder zu machen, die sich im Übrigen seit der letzten großen „Klischeebildung“ in den 1960er Jahren deutlich verändert hat.“
„Ich wollte erfahren, wie Repubblica als unabhängige Tageszeitung und Berlusconi-kritisch arbeitet. Außerdem war ich auch am Redaktionsablauf und der Arbeitsweise der sizilianischen Kollegen interessiert“, sagt Sabine Beikler. Die politische Korrespondentin des Tagesspiegel in Berlin arbeitete in der Redaktion von La Repubblica, einer der wichtigsten und größten Tageszeitungen in Italien (Auflage rund 650.000), in Palermo. Sabine Beikler entdeckte einige Unterschiede im redaktionellen Alltag der italienischen Journalisten, zum Beispiel: „Die italienischen Kollegen machen eine lange Mittagspause, die gegen 14 Uhr beginnt und gegen 16 Uhr aufhört“. Das sei für einen engen Tagesablauf wie beim Tagesspiegel mit der Deadline für die überregionale Ausgabe schlicht undenkbar, sagt Beikler. „Es gibt außerdem einen elementaren Unterschied, den mir auch italienische Kollegen erzählt haben: Es wird in der Regel nicht so intensiv oder investigativ recherchiert, wie in Deutschland.“ Außerdem beobachtete sie eine Art „Klientelismus“ in der Redaktion. Das heißt, dass die offiziellen Ansprechpartner für bestimmte Themen oft nur mit einem bestimmten Kollegen sprechen wollen. Wenn dieser nicht da ist, sagen sie eben nichts. Basta! Und während Frauen im politischen Journalismus in deutschen Verlagen keine Seltenheit sind, sind sie in Italien eher Exoten. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: die latente Unsicherheit, wie sich der Arbeitsplatz in der Print-Redaktion in Zukunft verändern wird. „Aber auch den Humor und den Hang zur situationsbedingten Ironie teilen deutsche und italienische Journalisten“, berichtet Beikler.
„Mich fasziniert die Liebe der Italiener zur Sprache. Sie reden gern und viel und sind ungern allein. Das zeigt sich auch darin, dass sie im Radio fast immer mit einer Doppelmoderation einen Klangteppich legen“, sagt Marcello Bonventre. Der Redakteur von Radio Bremen tauschte seinen Arbeitsplatz mit Laura Troja von „Caterpillar“, dem Programm von Rai Radio 2, in Mailand. Bonventre erlebte ein spannendes Experiment, denn er kehrte zu seinen italienischen Wurzeln zurück. „Bei uns in Deutschland ist Radio sehr streng formatiert, dabei spielt neben dem Inhalt die Technik eine große Rolle“, sagt Bonventre. Die Italiener hingegen transportieren das Gespräch unter Freunden ins Radio. Sie unterscheiden auch stärker zwischen Journalisten und Moderatoren, weiß der Redakteur. Die Rollen seien klarer getrennt als in Deutschland: Journalisten sollen recherchieren und ein Thema beleuchten, die Moderatoren bieten dagegen eine Plattform, sie binden die Journalisten in die Sendung mit ein. Sie rufen „ganz normale“ Menschen in aller Welt an und befragen sie zu den Themen. Zu Obamas Gesundheitsreform haben sie einen italienischen Arzt in den USA angerufen und ihn nach seiner Meinung gefragt. „Manchmal können sie ein Thema atemlos vorantreiben“, berichtet der Radio-Bremen-Redakteur. Sein Vorsatz aus dem „Tapetenwechsel“ lautet: „Wir sollten vielleicht auch häufiger die Technik hinten anstellen und uns für den besseren Gesprächspartner entscheiden, auch wenn er über Telefon nicht in hundertprozentiger Qualität herüber kommt.“
Und wie sieht das Laura Troja? „Ja, bei Radio Bremen ist die Qualität des Sounds sehr wichtig. Alles im Studio ist live oder mit dem MP3-Player aufgenommen. Bei Rai nutzen wir das Handy – das ist für die Deutschen nicht zu fassen.“ Kopfschütteln gibt es auch, weil italienische Moderatoren sich vor der Sendung keine Texte aufschreiben, sondern aus dem Stand moderieren. Einen wesentlichen Unterschied sieht Troja in den Erwartungen des Publikums. Die Deutschen seien stärker an auswärtiger Politik interessiert, als die Italiener. Und: „Die Hörer in Italien wollen viel mehr an den Sendungen teilnehmen. Sie schreiben sms und rufen live in der Sendung an“. Die Caterpillar-Hörer sind auch als Korrespondenten im Einsatz: Sie berichten aus Italien und aus dem Ausland, zum Beispiel über den Weg der Olympischen Flamme, den Straßenkrieg in Kalabrien, Demos in Griechenland oder über den Ölteppich auf dem Po. Laura Troja und Marcello Bonventre haben spannende Einblicke in den Arbeitsalltag der jeweils anderen Redaktion gewonnen: „Wir haben viel von der Gäste-Redaktion gelernt, aber auch viel über uns Deutsche und Italiener verstanden“, sagt Laura Troja.


 

Weitere Informationen: www.goethe.de/ins/it/lp/prj/vab/prs/deindex.htm

Weitere aktuelle Beiträge

Proteste bei TiKTok in Berlin

Rund 150 Beschäftigten der Trust and Safety-Abteilung (Content-Moderation) von TiKTok und einem Teil der Beschäftigten aus dem Bereich TikTok-Live (rund 15 Beschäftigte) in Berlin droht die Kündigung. Das  chinesische Unternehmen plant die Content-Moderation künftig verstärkt durch Large-Language-Models (Künstliche Intelligenz) ausführen zu lassen und die Arbeit an andere Dienstleister auszulagern. Dagegen protestierten heute vor der TikTok-Zentrale in Berlin Beschäftigte und Unterstützer*innen.
mehr »

Der Clickbait mit den miesen Botschaften

„Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler“, nach diesem Motto bewertete einst Helmut Thoma, der kürzlich verstorbene ehemalige RTL-Chef, den Erfolg von Programmformaten. Dieses für private Sender typische Prinzip findet inzwischen seine Fortsetzung in immer mehr digitalen Nachrichtenportalen. Das untermauert eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin nach der Auswertung von 40 Millionen Schlagzeilen.
mehr »

Halbzeit bei der UEFA Frauen-EM

UEFA-Women’s Euro 2025 heißt das Turnier nach dem Willen des Europäischen Fußballverbands. Bei den Männern wird auf die geschlechtsspezifische Eingrenzung verzichtet. Möglichweise ein Relikt aus den Zeiten, als das Kicken selbstverständlich eine maskuline Sportart war, vermeintlich ungeeignet für die „zarte Weiblichkeit“. 
mehr »

Dokumentarfilme: Näher an der Wahrheit

Das bekannte Archiv–Storytelling in Dokumentationen befindet sich im Wandel. Und das ist auch notwendig: Weg von stereotypen Erzählmustern, hin zu ganzheitlichen Betrachtungen. Bislang unbekanntes Archivmaterial  spielt darin eine wesentliche Rolle. Beispiele dafür gab es  auf der Sunny Side of the Doc im französischen La Rochelle zu sehen, wo die internationale Doku-Branche zusammenkam.
mehr »