Transparenz und Realitätssinn

Debatte über ethische Orientierung in Kommunikationsberufen

„Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ Mit diesen Worten entschuldigt Bettlerkönig Peachum in Brechts „Dreigroschenoper“ die fehlende Moral in der bürgerlich-kapitalistischen Welt. Wie steht es 80 Jahre später um die Moral in der bundesdeutschen Medienwelt? „Ethik der Kommunikationsberufe“ war im Februar Thema der Münchener Jahrestagung des Netzwerks Medienethik, das – 1997 gegründet – auf einen Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Berufspraxis zielt.

Für Journalisten, Öffentlichkeits- und andere Kommunikationsarbeiter ist es immer schwieriger, ethische Orientierungen zu finden, die der Realität ihres Berufsalltags entsprechen. Die Trennlinien zwischen Journalismus und Public Relations verschwimmen, wenn das wachsende Heer freier Journalisten zunehmend auf Einkünfte aus PR-Aufträgen angewiesen ist. Zudem erweitert sich durch die Globalisierung der kulturelle Rahmen, in dem ethische Normen und Werte wirken, wie der Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigte, in dem Pressefreiheit und Respekt vor religiösen Gefühlen aufeinanderprallten. Wie können Medienschaffende unter diesen Verhältnissen ihren ethischen Qualitäts- und Professionalitätsansprüchen gerecht werden?
„Es geht immer darum, wie man die hehren ethischen Ansprüche an die Realität angleichen kann“, resümiert der Medienwissenschaftler Christian Schicha die Ausrichtung der Vorträge auf der Münchener Konferenz. Schicha, zugleich Sprecher der mit veranstaltenden Ethik-Fachgruppe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), erklärt auf die Frage nach Lösungsansätzen, die meisten Tagungsteilnehmer plädierten dafür, „eher von außen Rahmenbedingungen zu schaffen, die Qualitätsjournalismus möglich machen.“
Eine kritische Bilanz zur Verankerung von Ethik in den Kommunikationsberufen zieht die Bochumer Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Thomaß im Einführungsvortrag. Die Kommerzialisierung des gesamten Mediensystems führe dazu, dass auch im Journalismus Gewinnerwartungen an erster Stelle stehen. In den Redaktionen wachse der Druck auf Zeit, Kosten und Personal. Da bleibt wenig Raum für ethische Reflexionen und es wundert nicht, dass die meisten Beschwerden beim Deutschen Presserat im vergangenen Jahrzehnt die Verletzung der Sorgfaltspflicht betrafen.
Eine weitere Folge der Ökonomisierung und des immensen Arbeitsdrucks in den Redaktionen: Die Vermischung von redaktionellem Teil und Werbung und der Einfluss von Interessen geleiteter PR nehmen zu – ein wachsendes Problem für eine demokratietheoretisch fundierte journalistische Ethik, die sich einer „öffentlichen Aufgabe“ verbunden fühlt. Es gebe zudem immer mehr verdeckte PR, die sich der kritischen journalistischen Überprüfung entziehe. PR-Ethikstandards seien in der Praxis unzureichend verankert, würden aber lebhaft diskutiert wie die Frage nach der „Elastizität“ der Wahrheitsnorm. Der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten provozierte den Deutschen PR-Rat im vergangenen Jahr mit der Aussage, PR habe die „Lizenz zu täuschen“.

Verantwortung auf allen Ebenen

Thomaß sagt, es sei „unfair“, den Stand der Ethik in Kommunikationsberufen anhand der Einhaltung von Standeskodizes zu beurteilen. Sie fragt, ob eine „kontextualisierte Berufsethik, die jenseits von kodifizierten Appellen Arbeits-, Produktionsbedingungen und auch Regulierung kritisch hinterfragt, eine Perspektive für die Erneuerung und Revitalisierung medienethischer Überlegungen“ eröffnet. Als theoretisches Konzept führt sie „Media Governance“ ein, das bei den gesellschaftlichen Strukturen ansetzt und Verantwortung auf allen Ebenen verortet – Medienunternehmen, Medienmarkt und Medienpolitik. Medienethik sei das „inhaltliche Fundament der Governance-Strukturen“. In der sich anschließenden Diskussion, so Schicha, wurde hinterfragt, ob das für politische und wirtschaftliche Kodizes entwickelte Governance-Konzept auf Medien übertragbar sei, da diese eine „öffentliche Aufgabe“ zu erfüllen hätten. Zumindest an den Journalismus seien „höhere Ansprüche“ als an die Auftragskommunikation der PR zu stellen.
Doch in der journalistischen Berufspraxis lasse sich z. B. die „Unabhängigkeitsnorm kaum durchsetzen“, so Schicha mit Blick auf den Druck von Anzeigenkunden wie Lidl oder Aldi, die bei unliebsamer Berichterstattung „den Geldhahn zudrehen“ und so die „Schere im Kopf“ beim Redaktionspersonal verstärkten. Bedroht wird die ethische Forderung nach journalistischer Unabhängigkeit auch von anderer Seite. Schicha erklärt, wenn das Netzwerk Recherche sagt „Journalisten machen keine PR“, sei das nicht mehr haltbar, weil die Arbeitsbedingungen für freie Journalisten mittlerweile „so gruselig sind“, dass anders nicht das nötige Einkommen erzielt werden kann. Eine ethisch vertretbare Lösung sieht er darin, dass Freie nicht über ein Unternehmen berichten, für das sie gerade Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Und es gehe darum, ihre Rolle für die Rezipienten transparent zu machen. Mangelnde Transparenz in der Informationsgebung erweise sich denn auch als ein ethisches Hauptproblem – insbesondere im Internet. So sei z.B. die Autorenschaft für die Einträge ins Wikipedia-Lexikon unklar.

Wahrheitsgehalt oft undurchsichtig

Der Ludwigsburger Philosophieprofessor Mathias Rath analysiert, wie das interaktive Web 2.0 die ethisch-professionellen Standards im Journalismus beeinflusst. Die partizipative Kommunikation im Web 2.0 habe ökonomisch basierte, institutionalisierte Hierarchien und Zugänge abgebaut. Jeder könne heute ein Produser, d.h. zugleich Produzent und Nutzer von Inhalten sein. Andererseits, so Rath, ist die Glaubwürdigkeit von Quellen und Angeboten nicht mehr institutionell abgesichert und muss von jedem Nutzer selbst überprüft werden. Journalisten im Web 2.0 sollten Produser daher auch über Qualität, Relevanz, ökonomische und ideologische Abhängigkeiten der Inhalte informieren. Nur so könne sich im Bewusstsein der Nutzer eine neue Ethik der öffentlichen Kommunikation entwickeln.
Auch Günter Bentele, in Leipzig Professor für Öffentlichkeitsarbeit/PR, plädiert für Transparenz als zentrales ethisches Kriterium, nachdem er sich mit dem Wirklichkeitsbezug von Ethikkodizes wie der Wahrheitsnorm auseinander gesetzt hat. Am Beispiel der verdeckten PR der Deutschen Bahn 2007, die im vergangenen Jahr vom Verein LobbyControl enthüllt wurde, zeigt er, wie undurchsichtig der Wahrheitsgehalt vermeintlich neutraler Medieninhalte ist. Die Bahn AG hatte die PR-Agentur EPPA beauftragt, in der Debatte um die Bahnprivatisierung und im Tarifkonflikt mit der Lokführergewerkschaft GdL Blogs, Internetforen und Streams auf YouTube in ihrem Sinne zu beeinflussen. Zu diesen „No badge“-Aktivitäten, bei denen der Auftraggeber nicht erkennbar („ohne Ausweis“) ist, gehörten auch lancierte Leserbriefe, initiierte Namensartikel und gefakte Meinungsumfragen. Die inzwischen gesperrte Webseite www.zukunftmobil.de trat z. B. als neutrales Informationsportal auf mit dem „Ziel, nachhaltige Mobilität“ zu schaffen.
Transparenz kristallisiert sich in Benteles Vortrag als „wichtiges Metakriterium“ zur Sicherstellung ethischer Ansprüche heraus. Sie sei zudem ein sozialer Mechanismus zur Überprüfung von Wahrheit, Richtigkeit, Objektivität und zur Herstellung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Bentele abschließend: „Transparenz, Offenheit bleiben als Leitnormen auch in der globalisierten Mediengesellschaft notwendig, wenn wesentliche gesellschaftliche Funktionen der öffentlichen Kommunikation aufrecht erhalten bleiben sollen.“
In einem demokratischen Staat wie der Bundesrepublik ist es auch eine ethische Frage, inwieweit die unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft in den Medien repräsentiert werden – inhaltlich und strukturell. Barbara Thomaß plädiert für eine „Vielfaltsethik“, die sicherstellt, dass die Beiträge zur öffentlichen Kommunikation den Lebensbedingungen der Gesellschaftsmitglieder gerecht werden.
Nicht mit der inhaltlichen, sondern mit der strukturellen Facette von Medienethik befasst sich die Soziologin Klarissa Kunze in ihrem Tagungsbeitrag zur sozialen Herkunft von Journalistenschülern.
Die schichtspezifischen Wurzeln der Medienschaffenden beeinflussen ihre Wahrnehmung und Auswahl von Themen. Eine zu starke Homogenität im Personal könnte eine multiperspektivische Kommunikation erschweren. Nach der repräsentativen Studie „Journalismus in Deutschland“ 2005 stammen die Berufsangehörigen zumeist aus der Mittelschicht.

Ungleiche Chancen

Kunze problematisiert und überprüft dieses „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ in ihrer Dissertation an journalistischen Eliten. Daten zur Nachwuchsrekrutierung erhält sie durch Interviews mit Leitern von drei Journalistenschulen und Befragung der Auszubildenden. Haben Angehörige aller sozialen Schichten die gleichen Chancen, in die Eliteschulen aufgenommen zu werden? Ein Ergebnis: 68 Prozent der Schüler und Schülerinnen stammen aus Elternhäusern mit hoher Bildung und beruflicher Position, viele von ihnen sind Kinder von Lehrern und Ärzten.
Diese Zusammensetzung resultiert aus der Bewerberauswahl. Die Schulleitungen entschieden nach fünf Kriterien, die sie als konstitutiv für eine „journalistische Persönlichkeit“ betrachten. Zunächst müssten die Aspiranten sich an Kommunikationspartner und -situationen anpassen, z.B. auch auf der Pressekonferenz eines Großkonzerns sicher auftreten können. Gefordert wird außerdem ein „Vertrauen erweckendes Wesen“. „Vertrauen entwickelt man wiederum vor allem zu Menschen, die einem ähnlich sind“, kommentiert Kunze. Als dritte Facette einer „journalistischen Persönlichkeit“ wird „breites Wissen zur Medienagenda“ genannt, d.h. nicht nur Kenntnisse von Außenminister Westerwelles Äußerungen zu HartzIV, sondern auch über die Kinderzahl von Brad Pitt und Angelina Jolie. Außerdem erwarten die Journalistenschulleiter eine „bescheidene Selbsteinschätzung“ sowie „Sprachgefühl und Gesprächsführungskompetenz“.
Die Umsetzungsmöglichkeiten ethischer Ansprüche in der Berufspraxis wurden auf der Tagung dann auch eher allgemein thematisiert. Barbara Thomaß plädiert dafür, Diskurse über Medienethik in Gang zu halten, weiterhin Ansprüche zu formulieren und einzufordern, dabei aber immer realistisch zu bleiben. Bei einer so gestalteten Verankerung der Berufsethik setzt sie vor allem auf Zusammenschlüsse und Initiativen – etwa das Netzwerk Medienethik, dem 2001 das Netzwerk Recherche und die Initiative Qualität im Journalismus folgten, der auch die dju angehört. 2003 gründete die Hamburger Akademie für Publizistik einen Ethikrat. 2004 entstand der Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle, der einen Medienrat für alle Publikationsorgane anstrebt.
Christian Schicha ergänzt, es wurde kontrovers über eine staatlich verordnete „Zeitungsabgabe“ analog zu den Rundfunkgebühren diskutiert, um den Printjournalismus zu stärken. Denkbar seien auch andere Finanzierungsmodelle, etwa „Mäzene für die Pressefreiheit“. Um die Qualität der Medienprodukte zu verbessern, seien gute Arbeitsbedingungen fürs Personal unabdingbar. Und wenn Journalisten diese mit dem Qualitätsargument einforderten, könnten sie z.B. von einem Ombudsmann unterstützt werden, der Leser- und Publikumskritik entgegen nimmt. Doch die wenigsten Medienunternehmen in Deutschland haben bisher eine Ombudsstelle.

Verbündete suchen

Auf der Tagung wurde der Blick vor allem auf die äußeren strukturellen Rahmenbedingungen für ethisch-professionellen Qualitätsjournalismus gerichtet. Gehört dazu nicht auch eine gesetzliche Verankerung von innerer Pressefreiheit, von mehr Mitwirkungsrechten des journalistischen Personals? Doch solange die Verhältnisse nicht so sind, bleibt für Medienschaffende nur, gemeinsam vorzugehen, Verbündete zu suchen für die Realisierung ethischer Ansprüche. Was der ehemalige IG-Medien-Vorsitzende Detlef Hentsche auf dem ver-di-Journalistentag 2009 zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen sagte, gilt auch für die Umsetzung ethischer Qualitätsansprüche: „Letztlich hilft nur kollektiver Druck!“

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