Streit über Alleintäterthese beim Reichstagsbrand – Spiegel-Story erneut kritisch gesehen
Die Debatte um die Alleintäterthese flammt nach einer Publikation des amerikanischen Historikers Benjamin Carter Hett wieder auf – und rückt damit den bislang meinungsführenden Spiegel erneut in ein kritisches Licht.
Die Titelstory „Das Rätsel um den Reichstagsbrand” des amerikanischen Historikers Benjamin Carter Hett war in der Redaktion der Welt durchaus umstritten. Ganze fünf Seiten hatte Welt-Herausgeber Stefan Aust in der Sonntagsausgabe vom 24. Mai 2015 durchgesetzt – „gegen den ausdrücklichen Rat” der Fachredaktion. Deren Leiter Sven Felix Kellerhoff warnte, der Beitrag werde „den Markenkern Seriosität der Welt beschädigen”. Carter Hett hatte in seinem Beitrag wesentliche Ergebnisse seines bei Oxford University erschienenen Buchs zum Reichstagsbrand zusammengefasst, welche die These von der Alleintäterschaft des Marinus van der Lubbe erschüttern. Diese wird bis heute von den meisten Historikern vertreten.
Gleichwohl gerät die Debatte um die Genese des Reichstagsbrands immer mehr zu einer Debatte um die Medien, die sich in Deutschland für die Alleintäterthese stark gemacht haben. Kellerhoff selbst ist keineswegs neutraler Beobachter, hat er doch selbst 2008 ein Buch zum Reichstagsbrand veröffentlicht, das die in Deutschland noch immer führende Alleintäterthese unterstützt. Carter Hett hingegen behauptet nun in seinem Beitrag, diese These sei Ende der 50er Jahre vom Verfassungsschützer Fritz Tobias im Rahmen eines Dienstauftrags wiederbelebt worden.
Tobias war kein Journalist, kein Historiker. Er hatte in den 50er Jahren in Niedersachsen die Nachrichtenpolizei aufgebaut und arbeitete seit 1959 beim niedersächsischen Landesverfassungsschutz. Zu Tobias „Klienten” gehörten in den 50er Jahren die Polizeikommissare Walter Zirpins, Helmut Heisig und Rudolf Braschwitz, die im Reichstagsbrand ermittelt hatten. Helmut Heisig starb bereits 1954. Die zwei anderen bekamen ab Ende der 50er Jahre Probleme im Zuge des Wiederaufnahmeverfahrens für van der Lubbe und in Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung zugunsten der Nationalsozialisten bei der Aufklärung des Reichstagsbrands.
In dieser Zeit stand das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ), das in Deutschland maßgeblich mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit betraut war, der Alleintäterthese noch kritisch gegenüber. Fritz Tobias setzte sich nun auf verschiedenen Ebenen dafür ein, dass diese zum dominanten Erklärungsmodell wurde: In den Jahren 1959 und 1960 schrieb er für den Spiegel eine Artikel-Serie, die vom ehemaligen Pressechef im NS-Außenministerium Paul Karl Schmidt redigiert wurde. 1962 legte Tobias mit einer Buchveröffentlichung nach. Dabei stütze er sich maßgeblich auf die Aussagen von Zirpins und eigene Untersuchungen.
In einem weiteren Schritt sollte die These auch höchsten wissenschaftlichen Segen erhalten. So setzte Tobias den damaligen IfZ-Direktor Helmut Krausnick unter Druck, nachdem er herausgefunden hatte, dass dieser von 1932 bis 1934 Mitglied der NSDAP gewesen war. Daraufhin entzog das IfZ dem Historiker Hans Schneider, der Quellenmanipulationen dokumentiert hatte, 1962 den Auftrag und untersagte ihm die Publikation seiner Arbeit. Zwei Jahre später bewertete der IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen die Alleintäterthese als durch die Dokumente bewiesen. Erst 2001 distanzierte sich das IfZ von Mommsen, nachdem der Soziologe Hersch Fischler diese Umstände nach einer Recherche im IfZ-Hausarchiv aufgedeckt hatte. Fischler, der sich seit zwei Jahrzehnten immer wieder mit den unterschiedlichsten Facetten des Falls befasst und dessen Recherchen bereits in zwei Fällen zur Einsetzung von Historikerkommissionen führten, wurde damals ein Einblick in das Spiegel-Archiv verwehrt.
Nachdem Carter Hett jedoch für sein Rechercheprojekt Zugang zu den Tobias-Akten zur Spiegelserie im Hausarchiv des Magazins erhalten konnte, entdeckte er dort einen Brief von Tobias an den Spiegel-Redakteur Günther Zacharias. Darin heißt es, Krausnick müsse nun „zittern”, dass „seine braune Vergangenheit herauskommt”. Hett konnte mit dem Schreiben also nochmals bestätigen, was Fischler bereits 2004 publiziert hatte, nämlich dass Tobias Krausnick unter Druck gesetzt hatte.
Auch konnte sich Hett einen Brief von Rudolf Diels bei einem Besuch bei Tobias ausleihen und kopieren. Diels hatte damals als Chef der Politischen Polizei die Aufsicht über die Ermittlungen. Er empfahl in dem Schreiben von 1946 der britischen Delegation beim Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, den früheren SA-Führer Hans Georg Gewehr als Hauptverdächtigen zu vernehmen. Fritz Tobias hatte den Brief bereits in den 80er Jahren erhalten, hielt ihn aber bei Übergabe des Diels-Nachlasses an das Niedersächsische Staatsarchiv zurück.
Nur ein Beispiel von vielen bis heute unaufgeklärten Merkwürdigkeiten: Der Reichstagsbrand fand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 statt. Etwa gegen 2 Uhr am Morgen des 28. wurde die Redaktion des sozialdemokratischen Vorwärts in Berlin von der Polizei besetzt, die Auflage wurde in der Druckerei beschlagnahmt. Nur wenige Exemplare waren kurz zuvor in andere Städte ausgeliefert worden. Fischler stellte im Rahmen des Zeitungszeugenprojekts 2009 fest, dass es von der letzten Ausgabe des Vorwärts in den Archiven zwei Versionen gibt.
Die eine Version ist heute noch im Original beziehungsweise auf Microfiche gesichert in den Bibliotheken in Kiel, Rostock, Köln, Bonn und Stuttgart einzusehen. Darin erwähnt die Redaktion auf der Titelseite eine Meldung der von den Nationalsozialisten dirigierten Nachrichtenagentur W.T.B, ein „holländischer Kommunist” habe den Anschlag gestanden. Dieser hält sie aber eine eigene Recherche mit den Worten entgegen: „Im Gegenzug dazu erklärt die zuständige Polizeistelle, dass diese Gerüchte nicht bestätigt werden können.” Fischler entdeckte im Bundesarchiv ein internes Polizeitelegramm vom 28.2., in dem von zwei festgenommenen Tätern die Rede ist. Ebenfalls im Bundesarchiv entdeckte er die Notiz eines W.T.B.-Mitarbeiters, der „ein Gespräch, das zwischen einem Berichterstatter des Vorwärts und der Redaktion des Vorwärts geführt wurde, abgehört” hatte. Er informierte die Politische Polizei noch am 27.2. darüber, dass der Vorwärts offenbar davon ausgehe, dass als Brandstifter NSDAP-Angehörige in Frage kämen.
In der zweiten Version der letzten Vorwärts-Ausgabe hingegen wird die W.T.B-Meldung ohne Gegenrecherche übernommen, die unter dem Titel „Ein Täter” bereits die Alleintäterschaft suggeriert. Kurios ist nun, dass ausgerechnet diese zweite Version 1973 als Nachdruck des Orbis-Verlags auf einem alt wirkenden Papier auftaucht und seither in vielen wissenschaftlichen Publikationen, dem Wikipedia-Beitrag zum Reichstagsbrand und sogar Museen und Archiven als nicht hinterfragtes Original kursiert. Dieser Nachdruck ist in der Papierqualität so gut wie nicht vom Original zu unterscheiden, aber in Länge und Breite um etwa 5 cm größer.
Irritierend ist, dass die zweite Version im Original-Format bisher nur in einem einzigen Exemplar im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung aufgetaucht ist, ohne Eingangsstempel. Dieses ist in einem Band in Japan-Papier versiegelt und eingebunden. Eine haptische Papierprüfung ist so nicht möglich. Wie die Version ins Archiv kam, ist ungeklärt. Ein Papier-Original der ersten Version konnte im Archiv nicht aufgefunden werden. Wohl deshalb wurde für eine Sicherheitsverfilmung im Jahr 1962 ein Exemplar aus einer anderen Bibliothek verwendet. Bei der anstehenden Digitalisierung des Vorwärts sollen jedenfalls alle vorhandenen Versionen publiziert werden, versichert Projektleiter Olaf Guercke.
Fischler wies bereits 2012 das Archiv auf die zwei Versionen hin – und er hält zwei Erklärungen für möglich: Entweder dem Archiv wurde eine Fälschung in hoher Qualität untergeschoben, die für den Nachdruck herangezogen wurde. Oder der Vorwärts hat in jener Nacht, um ein Verbot abzuwenden, noch eine zweite Version erstellt. Allerdings bleibt es ein Rätsel, wie das angesichts der kurzen Zeit zwischen dem ersten Druck und dem Ankommen der Polizei zu schaffen gewesen sein soll. Zudem sind bislang keine Berichte oder Zeugenaussagen von damals Beteiligten bekannt, die einen zweiten Andruck bestätigen würden.
Fischler ist der Meinung, dass der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust mit der Carter-Hett-Veröffentlichung in der Welt eine Art „Flucht nach vorne” angetreten habe. 2001 hatte der Spiegel unter Austs Leitung im Beitrag „Flammendes Fanal” noch einmal die Alleintäterthese bestätigt. Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Martin Doerry sagte Ende 2014 dem ZAPP-Magazin von NDR, er wolle die alten Nazi-Seilschaften im Spiegel „nicht verharmlosen”, aber die Alleintäterthese sei „inzwischen geltende historische Auffassung”, die „allgemein akzeptiert” sei.
Stefan Aust hingegen sieht die Geschichte inzwischen in einem anderen Licht. Diesen April erzählte er auf einer Veranstaltung in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, dass Rudolf Augstein die Veröffentlichung eines Artikels über NS-Seilschaften beim Spiegel entgegen seinem Rat abgelehnt hatte. Und über die Serie von Fritz Tobias urteilte Aust, „dass die Story nicht richtig war” und der Spiegel zu der damaligen Zeit „nicht ganz sauber” gewesen sei. Es seien noch die alten Nazi-Seilschaften aktiv gewesen, die im Spiegel eine „ganz schön falsche Geschichte erzählt” hätten. Dabei verweist er auch auf Carter Hett.
Sven Felix Kellerhoff, der Fritz Tobias zu Lebzeiten mehrfach besucht hat, hingegen versucht einen Schlussstrich zu ziehen: „Für mich ist das Thema abgeschlossen, es sind keine Quellen mehr übrig. Da muss schon jemand ein Dokument präsentieren, dass die Alleintäterthese nachhaltig widerlegt.” Für einen Schlussstrich ist es nach Fischlers Ansicht, aber aufgrund vieler aufklärungsbedürftiger Spuren noch zu früh. Er weist außerdem darauf hin, dass sich inzwischen auch die renommierten Historiker Ian Kershaw und Michael Wildt von der Alleintäterthese distanziert hätten. Zuvor waren es bereits Alexander Bahar und Wildfried Kugel, die die These von der SA-Beteiligung vertreten.
Mehr Informationen:
https://mmm.verdi.de/archiv/2006/07-08/pressefreiheit/autorisierung_und_rechthaben
https://mmm.verdi.de/archiv/2006/09/journalismus/verharmlosung_im_rueckblick
http://www.welt.de/geschichte/article141349436/ Das-Raetsel-um-den-Reichstagsbrand.html
Interview mit Stephan Aust: https://youtu.be/JFWlXYQtw4I
Benjamin Carter Hett,
„Burning the Reichstag
An investigation into the Third Reich’s enduring mystery”
Oxford University Press
Oxford 2014
ISBN 978-0-19-932232-9