Videoclip für den Kopf

Mit „Hörpol“ kontra Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit

Oranienburger, Ecke Auguststraße. Der 15jährige Anton fixiert einen imaginären Punkt an der Fassade des Hauses unweit vom alternativen Kunstzentrum Tacheles und erhöht die Lautstärke an seinem iPod, um den Verkehrslärm zu übertönen. Gerade berichtet „Fritz“-Moderatorin Diana Frankowic über die perfide Propaganda-Methode von Rechtsrockgruppen, die Melodien bekannter Songs zu klauen, um sie mit ihrer menschenverachtenden Ideologie aufzuladen.

Sie stimmt die ersten Zeilen des alten Volksliedes „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ an – ein Stück, das schon die Nazis missbrauchten, während sie im Marschrhythmus halb Europa in Schutt und Asche legten. Nein, Gesang ist nicht unbedingt die Stärke von Diana, aber die Botschaft kommt an bei Anton und seinem Kumpel Dorian. Erst recht, als anschließend der Opus-Hit „Life is life“ aus dem Jahre 1985 erklingt, allerdings in einer brunzdummen Neonazi-Version mit dem Refrain „Wir grüßen Heil“. Ein „Partyknaller für Hirnlose“, schimpft Jana, gefolgt von Kurzstellungnahmen einiger Jugendlicher, die sich gleichfalls empört über diese schamlose Form der Manipulation von Musik äußern. Zu guter Letzt kündigt der Komponist des Opus-Hits rechtliche Schritte gegen die Rechtsrocker an.

Eine ganze Menge Informationen für ein kaum sechsminütiges Hörstück mit dem Titel „Party“. Es ist Teil der 27 Stationen umfassenden Audio-Tour „Hörpol“. Ein Versuch der etwas anderen Art, junge Menschen mit einem der schlimmsten Kapitel deutscher Geschichte zu konfrontieren. „Hörpol“ ist ein „jugendgerechter Videoclip für den Kopf“, der an historischen Originalschauplätzen in Berlin-Mitte (Spandauer Vorstadt) „jüdische Geschichte erleben und nachfühlen lässt“, beschreibt Projektleiter Hans Ferenz das Unternehmen. Wenn Jugendliche in der Schule – wenn überhaupt – an die deutsch-jüdische Geschichte herangeführt werden, geht es meist um schwere Kost: um die Erinnerung an den Holocaust, das Desaster deutscher Politik und die Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen zwischen Juden und Nicht-Juden. Ein allzu häufig sehr abstraktes Lernprogramm, das meist nicht an die aktuelle Lebenspraxis junger Menschen anknüpft. Die Älteren dürften sich erinnern, wie quälend trocken und langweilig Geschichtsunterricht gelegentlich sein kann. Es gehe „nicht darum, Geschichte zu lernen, sondern zu erfahren“, sagte Claudia Zinke, Berliner Staatssekretärin für Bildung, Jugend und Familie bei der Präsentation des Projekts. Nicht Buchwissen, sondern sinnliches Erleben an authentischen Schauplätzen rühre an. Das Anfang Juli gestartete Projekt „Hörpol“ in Berlin Mitte versucht, einen solchen sinnlichen Zugang zu vielen Facetten jüdischer Geschichte und Gegenwart zu liefern.
An einigen Stationen haben Schüler höherer Jahrgänge mitgearbeitet. Zum Beispiel auch bei „Anpinkeln“. Darin liest Jugendbuchautor Klaus Kordon eine Passage aus seinem Roman „Julians Bruder“, in der Nazis auf einen Berliner Juden urinieren. Der Autor verabschiedet sich von den Hörern mit dem – ironischen – Hinweis, er habe „wie in einem Roman so üblich“ alles erfunden. Anschließend folgen in komprimierter Form Nachrichten über tatsächliche Ereignisse aus jüngerer Zeit. Kostprobe: „Sommer 2002. Weil der 17jährige Marco Hiphop hörte, weite Baggy Jeans trug und sein Haar blond färbte, wurde er von drei Jugendlichen als Jude beschimpft, brutal zusammen geschlagen und angepinkelt. Anschließend sprang einer der Rechtsradikalen Marco in den Nacken und tötete ihn.“ Als „Nachrichtensprecher“ agieren die Elftklässler Désirée, Jenny und Vincent von der Spandauer Martin-Buber-Oberschule. Ob die abschließende Verbalattacke gegen die Neonazis („Was wollt ihr mit euren Taten eigentlich erreichen?“) und das Bekenntnis zu einem „demokratischen und freien Deutschland“ die angesprochene Szene erschreckt, sei einmal dahin gestellt.
Die nicht-kommerzielle Audioführung „Hörpol“ richtet sich vor allem an Jugendliche ab 14 Jahren, an Schulklassen aller Schultypen ab Klasse Neun. Die Hörstationen bieten einen Querschnitt über Jüdische Geschichte und Jüdische Kultur, über das Grauen der NS-Zeit und neuen Rechtsradikalismus, aber auch über das Zusammenleben in einer mehr und mehr multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Der Zugang erfolgt über das Internet: Stationsplan und Hörstationen der Audioführung stehen unter der Adresse www.hoerpol.de als Download zur Verfügung; MP3-taugliche Handys oder MP3-Player dienen als „Audio-Guides“. 160 Minuten netto dauern die Stationen insgesamt; die Länge variiert zwischen drei und acht Minuten. Es empfiehlt sich, für einen Streifzug nur eine Handvoll Stationen anzusteuern. Denn „Hörpol“ lädt nicht zum schnellen Audio-Konsum ein, sondern provoziert zur Diskussion über die präsentierten Inhalte.     Die Vielzahl von Cafés
und Kneipen in diesem angesagten Teil von Berlin-Mitte animiert geradezu zum genussvollen Verweilen und Klönen.
Gefördert wird das Projekt von Bundespräsident Horst Köhler, der Jüdischen Gemeinde, der Bundeszentrale für Politische Bildung, dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit und vielen anderen. An die 120 Personen haben Hörpol“ möglich gemacht – als Unterstützer, Sponsoren, oftmals auch als ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Kosten in Höhe von 148.000 Euro übernahm unter anderem der Hauptstadtkulturfonds. Zu den Unterstützern zählen auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie ver.di. Als Medienpartner agieren der Tagesspiegel, Zitty, Fritz, das ZDF und Deutschlandradio Kultur.
Mitgewirkt haben auch eine Reihe „Medienpromis“ wie Rufus Beck und Marietta Slomka sowie Zeitzeugen. So enthält die Hörstation „Du spinnst!“ die O-Ton-Geschichte von Coco Schumann, der Auschwitz als Mitglied der Lagerkapelle überlebte. Dass ernste Inhalte und witzige Aufbereitung einander nicht widersprechen, belegt die Musik-Wortcollage „Trotzdem!“ über das Jüdische Gymnasium an der Großen Hamburger Straße. Ein kleines akustisches Juwel, bei dem alle Geräusche und die Musik von der BeatBox-Gruppe „4XSamples“ mit dem Mund erzeugt wurden. Bei allem Bemühen um eine zielgruppengerechte Sprache verfällt Hörpol dankenswerterweise niemals in einen anbiedernden Jugend-Jargon.
Die gleichfalls eher humorvoll angelegte Station „Fromms“ handelt vom Kondomfabrikanten Julius Fromm, dessen ‚„jüdische Erfindung“ den Alltag der Jugendlichen bis heute nachhaltig prägt. Eine Art Radioshow, gesprochen von Axel Prahl sowie Serkan Sehan vom Grips-Theater. Ebenso wie für „Du spinnst!“ liegt auch für „Fromms“ vertiefendes Unterrichtsmaterial zum Download bereit, in diesem konkreten Fall über die Familiengeschichte der Fromms, über Ausgrenzungsmechanismen und entsprechende Strategien des NS-Regimes. Entwickelt wurden diese Materialien maßgeblich vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM). Das Material, darauf legt Hörpol-Macher Ferenz großen Wert, sei geeignet für alle Schultypen, könne also je nach Leistungsstand der einzelnen Klassen eingesetzt werden. Die Audiotour vermittelt wertvolle aktuelle Bezüge zu den großen Themenfeldern Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.
Anton und sein Kumpel sind inzwischen an der Monbijou-Brücke angelangt. Ausflugsdampfer tuckern am gegenüber liegenden Bode-Museum vorbei. Das Wellenrauschen der Spree vermischt sich mit dem Plätschern aus ihren iPod-Ohrstöpseln. „Amerika“ heißt die hier angesiedelte Station, bei der erneut Jugendbuch-Autor Kordon als Sprecher und Vorleser zum Zuge kommt. Hier geht es um den – vielfach an den Ausländerbehörden gescheiterten – Versuch jüdischer Bürger, dem Terror der Nazis durch Emigration in das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zu entkommen. Schon entspinnt sich zwischen Anton und seinem Freund eine Diskussion darüber, wieso Jahr für Jahr im Mittelmeer schwarzafrikanische Boots-Flüchtlinge ums Leben kommen, weil die europäischen Länder die Aufnahme verweigern. Anton hat das Buch von Kordon bereits gelesen. Er wird es seinem Freund Dorian ausleihen.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Von Erbsensuppe und neuen Geschichten

„Vielfalt schützen, Freiheit sichern – 40 Jahre duale Medienordnung im föderalen Deutschland“. Dies war das Thema des Symposiums, das am 23.  April in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Ausrichter war die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM).  Teilnehmer waren Verantwortliche aus Medienpolitik und -wissenschaft, Rundfunkregulierung und Medienunternehmen.
mehr »

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »