Sie alle wollen höher, schneller, weiter. Eine endlose Open World, atemberaubende Details und ein immersiveres Gameplay. An Innovationen fehlt es der Branche selten, doch profitieren davon längst nicht alle Gamer*innen. Menschen mit Behinderungen finden in der Videospielindustrie nach wie vor kaum Beachtung, obwohl sie laut einer YouGov-Studie im Auftrag des Branchenverbands game etwa 8,2 Millionen Menschen ausmachen. Auf der gamescom 2023 stand dieses Thema nun aber im Fokus der Aufmerksamkeit.
„Es ist frustrierend, wenn ich ein Spiel nicht spielen kann oder abbrechen muss, insbesondere, wenn es einfache Möglichkeiten für eine barrierefreie oder zumindest barrierearme Steuerung gegeben hätte“, echauffierte sich Bloggerin und Gamerin Marlene Beilharz. Aufgrund eines Sauerstoffmangels während der Geburt ist die 26-Jährige schwer körperbehindert, lässt sich ihre Leidenschaft für das Gaming aber nicht nehmen. Sie steuert die Spiele eigenhändig mithilfe eines speziellen Mini-Joysticks, den sie mit dem Kinn bedient.
Auf dem Podium des Jugendforums NRW im Rahmen der diesjährigen gamescom berichtete sie neben vier weiteren Gamer*innen mit Behinderung von ihren Erfahrungen. Fehlende Untertitel, Quick Time Events oder geforderte Treffsicherheit – je nach Einschränkung seien Spiele unspielbar. Inzwischen rücke die Barrierefreiheit zwar immer mehr ins Bewusstsein der Publisher – die Hardware und Software würden besser – trotzdem gäbe es noch viel zu tun, so Beilharz.
Erstmals Award für Barrierefreiheit im Gaming
Ein Meilenstein wurde am 23. August, dem Fachbesucher- und Medientag, in den Hallen der Koelnmesse gesetzt: In Zusammenarbeit mit dem Kölner Mobilfunkanbieter Congstar zeichnete die Initiative Gaming ohne Grenzen herausragende Projekte und Persönlichkeiten mit dem Gaming ohne Grenzen-Award aus – einer 3D-gedruckten, mit Blindeninnschrift versehenen und dadurch selbst barrierefreien Trophäe. Eine interdisziplinäre Jury würdigte in fünf Kategorien das außergewöhnliche Engagement im Bereich „Gaming & Inklusion“.
Den ersten Preis in der Kategorie „National“ nahm Manuel Baisch von „Unconditional Gaming“ entgegen. Seine Plattform testet auf der Grundlage verschiedener Parameter Games auf ihre Barrierefreiheit. „Für Gamer*innen mit Behinderung ist diese Seite eine besondere Anlaufstelle, denn wie sollen sie sonst vor dem Kauf eines Spiels wissen, ob sie es überhaupt spielen können. Die Datenbank ist nicht nur kostenlos, sondern auch für alle zugänglich. Jeder aus der Community kann Bewertungen verfassen“, würdigte Laudator Thomas Feibel, der seit 2002 den Deutschen Kindersoftwarepreis „Tommi“ verleiht, die Datenbank.
Der Award „International“ ging an Brian Fairbanks, Entwickler des Games Lost & Hound. In seiner Videobotschaft sprach er von seiner selbstauferlegten Mission, ein Spiel zu entwickeln, das sich explizit an blinde oder taube Menschen richtet. Neben den Preisen für Repräsentation („Sibel’s Journey“) und Personality (Inklusionsaktivistin Melanie Eilert), zeichnete die siebenköpfige Jury auch besondere assistive Technologien aus. Der Sieger dieser Kategorie ist das Start-up Semanux. Die von den Stuttgartern entwickelte Software erlaubt die Steuerung des PCs allein über die Mimik. Durch die Kompatibilität mit weiteren adaptiven Controllern ermöglicht sie barrierefreiere Gaming-Sessions.
Trotz der längst überfälligen Sichtbarkeit, die diese Preisverleihung lieferte, blieb Beilharz kritisch: „Inklusion ist ein Grundrecht. Deshalb sollten barrierefreie Spiele nicht ausgezeichnet werden. Stattdessen sollten Studios, die nicht auf Accessibility achten, begründen müssen, warum sie es nicht tun.“ Solange inklusive Spiele aber keine Selbstverständlichkeit seien, sei jede Entwicklung in diese Richtung dennoch gutzuheißen.
Viel Raum für Verbesserungen
Diese Ansicht teilte auch Saskia Moes, Fachreferentin bei der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW (fjmk) und Projektleiterin von Gaming ohne Grenzen, im Anschluss an die Preisverleihung. „Es gibt noch viel Raum für Verbesserungen, aber immerhin erhält das Thema in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit.“ Neben den prämierten Projekten gäbe es immer wieder Publisher und Elektronikkonzerne, die mit gutem Beispiel vorangingen. Der Xbox Adaptive Controller habe das Fundament gelegt und Spielenden mit motorischen Beeinträchtigungen neue Möglichkeiten eröffnet. „Microsoft hat die Vorreiterrolle übernommen, demnächst bringt Playstation einen Access-Controller heraus. Nintendo hat zwar noch keine eigene Technologie, aber hier helfen Drittanbieter nach“, so Moes.
Allerdings sollten sich Unternehmen nicht auf ihren assistiven und adaptiven Technologien ausruhen. Es sei wichtig, schon bei der Entwicklung von Spieleinhalten sämtliche Barrieren mitzudenken. „Ein Spiel, das vollumfänglich barrierefrei ist, mag zwar kaum zu realisieren sein, aber man sollte versuchen, so viele Anpassungsoptionen wie möglich anzubieten.“ Im Bereich der Triple-A-Titel (die Blockbuster unter den Spielen) hob Moes besonders das Rennspiel Forza Horizon 5 hervor. „Das Game hat eine Innovation mitgebracht: Es ist das erste Spiel mit Gebärdendolmetscher*innen in den Cut-Szenes – wenn auch bislang nur auf englischer und amerikanischer Gebärdensprache.“ Zudem sei es laut Moes essenziell, etwaige Optionen nicht tief im Menü zu verstecken, sondern bereits beim Spielstart anzubieten.
Trotz einiger Lichtblicke in puncto barrierefreies Gaming zeigt sich auch auf der weltweit größten Videospielmesse: Die Branche hat noch einen weiten Weg vor sich. Dabei läge laut Moes der größte Handlungsbedarf bei der Repräsentation: „Menschen mit Behinderung werden leider viel zu selten in neutralen Kontexten abgebildet. Ein Rollstuhl sollte kein Horrorgame-Element sein. Er sollte wie selbstverständlich dazugehören. Denn das ist es doch, was Gaming letztlich auszeichnet: Das es für alle da ist und alle verbindet.“