Von wegen Datenautobahn – Arbeitsmarkt, Qualifizierung und gewerkschaftliches Handeln
In München lockt eine private Akademie mit dem „Studiengang Mediadesigner/in“, in Stuttgart eine andere mit der Qualifikation „Multimedia-Konzeptionist“ und ein Dortmunder Träger wirbt für sein „Traineeprogramm Medienwirtschaft“. Mal sind arbeitslose Akademiker die Zielgruppe, mal wird ein mittlerer Bildungsabschluß und mal eine abgeschlossene Lehre vorausgesetzt. Drei Beispiele aus dem phantasievollen, schwer überschaubaren und teilweise wenig seriösen Aus- und Fortbildungsmarkt für „Neue Medienberufe“. Ein Platz in der ersten Reihe bei Planung, Herstellung und Vertrieb audiovisueller Produkte ist die berufliche Zukunftsperspektive schlechthin, suggerieren die Kursanbieter.
Wie aussichtsreich ist der Arbeitsmarkt „Multimedia“? Welche Qualifikationsprofile gibt es für Neueinsteiger, welche Anforderungen sind an sog. „Fortbildungsberufe“ für Beschäftigte in Technik, Archiv und Programm zu stellen? Wo sind die Hebel für gewerkschaftliche Einflußnahme? Drei Ausgangsüberlegungen:
- Alle Zahlen zur Beschäftigungswirkung vonMultimedia im engeren und im weiteren Sinn sind spekulativ;das gilt ebenso für verbindliche Aussagen darüber, in welchen Arbeitsfeldern neuer Bedarf entstehen wird.
- Die technologische Entwicklung – Digitalisierung und Vernetzung – hat eine entgrenzende Wirkung: Branchen wachsen zusammen; das übt auch eine Sogwirkung auf gewerkschaftliche Strukturen aus. Berufsbilder verlieren ihre Konturen – Festhalten an Bewährtem und Bereitschaft zur Weiterentwicklung sind gleichermaßen gefragt (siehe Gespräch).
- Die IGMedien muß als Tarifvertragspartei und als Mitgestalterin der Berufsbildungspolitik Einfluß nehmen. Neue Allianzen mit den anderen DGB-Gewerkschaften, die ebenfalls stark von der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie tangiert sind – vor allem IGMetall, HBV, ÖTV, Postgewerkschaft – sind zu entwickeln1.
Der Markt
Die Euphorie, die der Bangemann-Report der EU-Kommission über die ungeahnten positiven Beschäftigungsimpulse des Telekommunikationsmarktes zu verbreiten suchte, ist verflogen. Selbst eine von der Brüsseler Kommission beauftragte Expertengruppe warnte im Januar dieses Jahres vor zu viel Optimismus und verwies auf die zahlreichen gesellschaftspolitischen Risiken. „Multimedia könnte zum Jobkiller werden“, überschrieb das „Handelsblatt“ den Bericht über die Zwischenergebnisse der Forscher. Klar ist demnach der massive Arbeitsplatzverlust durch die EU-weite Deregulierung und Privatisierung im Bereich der Telekommunikation; von einem Zugewinn an Beschäftigung in neuentstehenden Zweigen ist zwar auszugehen, zahlenmäßig belegt werden kann er bislang jedoch nicht, heißt es. Einen solchen Beleg wollten Gutachter im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erbringen. Wie die Funktionärszeitschrift des DGB, „Die Quelle“, in ihrer April- Ausgabe berichtet, sind die Ergebnisse bisher nur über das Datennetz von Internet greifbar. Ganze zehn Prozent zusätzliche Arbeitsplätze, das wären 180000 Stellen, werden diesen Modellrechnungen zufolge in den nächsten 15 Jahren im Medien- und Kommunikationsbereich – also bei Print- und elektronischen Medien, bei Telekommunikationsdiensten, sowie bei Produktion und Distribution von Hard- und Software – entstehen.
Die Beobachtungen der IGMedien im eigenen Organisationsbereich verweisen auf folgende Tendenzen: In großen Betriebseinheiten, in denen es gesicherte Arbeitsverhältnisse und Strukturen für gewerkschaftliche Arbeit gibt – vom Druck- und Verlagsbereich bis zu den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – werden Stellen abgebaut. Dem stehen Auslagerungen und Neugründungen von Produktionsgesellschaften und Agenturen gegenüber – das sind in der Regel kleine Unternehmen, die mit „Freien“ oder Scheinselbständigen arbeiten. Organisierte Interessenvertretung stößt in diesem Bereich erfahrungsgemäß schnell auf strukturelle und auf Mentalitätshürden. Folgen für Beschäftigungssuchende ergeben sich auch aus der Verlagerung der Branchenschwerpunkte in den miteinander konkurrierenden deutschen Medienzentren, das sind vor allem die Regionen München, Hamburg, Köln, Berlin-Brandenburg und Frankfurt.
Die Qualifizierung
Schon vor einem Jahr pries der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) seine „Aktion neue Berufe“ als wichtigen Beitrag für zusätzliche Lehrstellen. Allein in den geplanten Berufen Medienoperator/in, Mediengestalter/in AV-Technik und Kaufmann/Kauffrau in der AV-Medienproduktion könnten pro Jahr 550 bis 850 neue Ausbildungsplätze geschaffen werden, hieß es. Die Realität sieht derzeit viel magerer aus (siehe neue Berufsprofile), die Unternehmen reagieren zögerlich auf die neuen dualen Ausbildungsangebote. Offenbar gilt, was in einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) im März 1996 so formuliert wurde:2 „Was ein neuer Ausbildungsberuf werden soll, zeigt sich zuerst in der Weiterbildung.“ Wenn es tatsächlich um eine rasche „berufspolitische und beschäftigungswirksame Antwort auf Innovationen“ gehe, so die BIBB-Gutachter weiter, müsse sich vor allem mit Quantität und Qualität des Fortbildungsbedarfs auseinandersetzen. Denn „über die Entwicklung von Zukunftsberufen in der Ausbildung sind beschäftigungswirksame Effekte – so sie denn eintreten – erst in vier bis fünf Jahren zu erwarten.“Bislang herrscht aber ein völliger Wildwuchs auf dem Feld der Fort- und Weiterbildung im Bereich Multimedia vor. Das hängt damit zusammen, daß sich zukünftige Qualifikationsanforderungen und -entwicklungen erst vage herauskristallisieren, das liegt aber auch am Metier: Bei vielen etablierten Medienberufen – vom Journalisten bis zur Bildmischerin – sind die Zugangsvoraussetzungen offen.3 Das hat gute Gründe, aber auch Nachteile. So ist es schwierig, auf dieser labilen Grundlage verbindliche Eckdaten für neue Qualifikationsprofile – sog. „Fortbildungsberufe“ – festzuzurren. Kein Wunder also, daß seriöse und weniger seriöse Bildungsinstitute versuchen, Fakten zu schaffen und gutes Geld dabei verdienen.
Für eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat Karin Kühlwetter im September 1995 beispielhaft die Weiterbildungs-Datenbank „Kurs direkt“ der Bundesanstalt für Arbeit ausgewertet.4 Hochschulstudiengänge sowie reine Computer-Software-Kurse blieben außen vor. Berücksichtigt wurden 386 Veranstaltungen: von kurzen Einführungskursen zu „Technische Multimedia-Voraussetzungen“, „Unternehmensbezogene Rechtsfragen zu Multimedia“ oder „Medienproduktion“ bis hin zu zertifizierten Professionskursen. Hier besonders, so schreibt die Autorin, wird viel mit „Phantasiebezeichnungen für berufliche Abschlüsse und Zielpositio- nen operiert“: Multimedia- Designer/in, Programmierer/in, Konzeptionist/in, Entwickler/in, Audio- und Videogestalter/in, DTP-Publisher/in. In den meisten Fällen geht es einfach darum, Spezialisten für konkrete Produktentwicklung und -gestaltung zu qualifizieren. Aus ihrer ergänzenden Firmenbefragung ergibt sich, so Karin Kühlwetter, daß die Branche eine „Multi-Professionalität“ ihrer Fachkräfte wünscht: Teamfähigkeit und Kreativität, Handlungs- und Steuerungsfähigkeit, breites Allgemeinwissen und selbst Managementerfahrungen rangieren demnach in der Hitliste der Betriebe noch vor den spezifischen gestalterischen oder technischen Detailqualifikationen wie Medienbearbeitungstechniken, Grafikkenntnissen und Hardwarepraxis. Fast ebenso oft werden Lernbereitschaft, Belastbarkeit, Organisationstalent und Kommunikationsfähigkeit verlangt.
Verwirrend bis verunsichernd ist dieser unübersichtliche Markt nicht nur für diejenigen, die um ihre berufliche Zukunft in einem „alten“ Medienberuf bangen oder als Quereinsteiger auf die „richtige“ Multimedia-Schiene kommen wollen. Auch die Medienwirtschaft – insbesondere kleine und mittlere Unternehmen – brauchen Hilfestellung. So ist beispielsweise in Köln ganz neu die „Clearingstelle für Medienberufe“ entstanden. Der Verein, in dem unter anderem WDR und RTL, kleine Produzenten, Filmverbände, IGMedien und die Stadt Köln Mitglieder sind, will – mit Anschubfinanzierung Nordrhein-Westfalens – die Schaltstelle „zur Förderung der Aus- und Weiterbildung in der Medienwirtschaft“ werden. Sie möchte Informationen über Medienberufe sammeln, bewerten, kanalisieren und weiterleiten sowie neue Konzepte entwickeln. Ein be(ob)achtenswertes Beispiel.
Die Konsequenzen
Welche Aufgaben ergeben sich aus all dem für die IG Medien, die als Tarifpartei und als Partnerin in der Gestaltung der Berufsbildungspolitik Einfluß nehmen kann? Wer gestaltet die Diskussion? Welche Alltagserfahrungen fließen ein? Auf welchen Ebenen müssen bald Entscheidungen fallen? Im IG-Medien-Forum vom Februar dieses Jahres5 haben die beiden Aus- und Weiterbildungsfachleute im Hauptvorstand, Angela Abel und Frank Werneke, das Arbeitsfeld „Vom Buchdruck zu Multimedia“ umrissen und vor allem die Berufsbildentwicklung auf dem Gebiet der Druckvorstufe beschrieben. Ende März 1996 hat nun der Hauptvorstand Positionen formuliert, die sich als Diskussionsgrundlage für betroffene Fach- und Berufsgruppen eignen.6 Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Erkenntnis, daß es keinen einheitlichen Multimedia-Beruf geben kann. Denn ob Telekommunikationsunternehmen, Rundfunkbetriebe oder andere einschlägige Branchen – alle bauen an eigenen Profilen, sei es für die Medienkauffrau oder für den Informationstechnologen. In der Konsequenz heißt das, daß sich bei der Neugestaltung solcher Ausbildungsberufe jeweils mehrere Gewerkschaften – wie HBV, ÖTV, IGMetall, Postgewerkschaft oder IGMedien – einigen müssen.7
Bei neuen und überarbeiteten Berufsbildern, so das Stuttgarter Papier, legt die IGMedien besonderen Wert auf „die Sicherung der beruflichen Perspektive“ der bereits Arbeitenden. Beispiel: Zugänge von klassischen Berufen der grafischen Industrie zu weiterentwickelten Tätigkeitsfeldern im Bereich Mediendesign oder Multimedia-Design müssen offenbleiben. Neue Multimedia-Berufe müssen also an existierende Berufe anknüpfen, und zwar so, daß die „Qualifizierungskette nicht bricht“ und keine Sackgassen entstehen. Das ist nur möglich, wenn Staat, Arbeitgeber und Gewerkschaften als Träger der Berufsbildung parallel zur Neuordnung von Berufen auch Eckpunkte für Fort- und Weiterbildung mit dementsprechend „definierten Abschlüssen“ vereinbaren. Diese haben dann auch den Vorteil, bundesweit anerkannt zu sein. „Kammerlösungen, die nur regionale Gültigkeit besitzen, führen gerade in der stark vernetzten Medienindustrie nicht weiter“, stellt der Hauptvorstand dazu fest.
An Bund und Länder richtet sich die Forderung, Berufsschulen besser als jetzt auszustatten. Die Vermittlung von Teamfähigkeit, Projektorganisation, Problemlösungskompetenz, Informationshandling, Kommunikationsfähigkeit und projektorientiertem Arbeiten müsse in ihren Händen bleiben und dürfe nicht klammheimlich auf kommerzielle, private Bildungsträger übertragen werden. Klare Vorstellungen gibt es auch, was Inhalte, Qualitätsstandards und Ausbildungsziele der Weiterbildungsangebote betrifft. Einige Stichworte: medienübergreifende Qualifikation statt begrenzter Wissensvermittlung, Kenntnisse über Struktur und Arbeitsbedingungen der Medienbranche, Medienethik, Urheberrecht, Grundlagen der Arbeitsorganisation, Team- und Projektarbeit. Führende Konzerne, die Print- und elektronische Medien unter ihrem Dach vereinen, haben nach Ansicht der IGMedien eine Vorreiterrolle auch auf dem Feld der beruflichen Qualifikation. Weil sie ökonomisch und personell die Fähigkeit zur „Schaffung zukunftsgerechter Berufsbilder“ haben, erwachse daraus besondere Verantwortung – gerade was den Branchenkonsens und die Vermeidung von Zersplitterung angehe.
Ein Feld, auf dem gewerkschaftliches Handeln ebenfalls not tut, sei angefügt: die präventive Arbeitsgestaltung unter Einbeziehung der Betroffenen. Was alles darunter fällt, umreißt Klaus Pickshaus, IG-Medien-Experte für Gesundheitsschutz und Arbeitsökologie:8 Multimedia-Arbeit ist in hohem Umfang Bildschirmarbeit. Die Einhaltung ergonomischer Mindeststandards ist ein wichtiger Aspekt, die Arbeitsorganisation und der Belastungswechsel ein anderer. Gerade beim häufigen Einsatz neuer Software kommt aber etwas Entscheidendes hinzu: Selbst aufwendige Schulungen können sich als ineffektiv erweisen, so Pickshaus, wenn sie nicht ausreichend auf die konkreten Arbeitsplatzanforderungen abgestimmt sind: „Angesichts des raschen technologischen Wandels wird die ständige Weiterqualifizierung zu einer Schlüsselfrage – gerade für eine präventive Arbeitsplatzgestaltung, um psychische Überforderungen abzubauen bzw. zu vermeiden.“ Dies aber ist nur zu erreichen, wenn die Beschäftigten einbezogen werden. Aus den in Rundunkanstalten und Verlagshäusern gesammelten Erfahrungen ist die Tarifforderung nach garantierten Qualifizierungszeiten sowie „Gesundheits- und Gestaltungsgesprächen“ während der Arbeitszeit entstanden, um so die aktivere Rolle der Betroffenen zu ermöglichen. Erstmals konkret wurden solche Vorschläge in das Forderungspaket der IGMedien in der seit 1993 laufenden Manteltarif-Runde für Druckindustrie und Zeitungsverlage aufgenommen. Bislang, ohne einen Durchbruch zu erzielen.
- van Haaren/Hensche (Hrsg.):Multimedia. Die schöne neue Welt auf dem Prüfstand, VSA- Verlag, Hamburg, 1995. ISBN: 3-87975-662-7.
- BIBB-Studie: Berufliche Weiterbildung. Professionalisierung für neue Beschäftigungsfelder, Berlin. März 1996.
- Gerade ist die 2. Auflage eines Buches, das Orientierungshilfe geben will, herausgekommen – und dennoch enthält es schon wieder nicht den ganz aktuellen Stand: Andreas Schümchen, Karriere in den Medien: TV und Video. 100 Berufe im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen und in Produktionsunternehmen, Verlag Reinhard Fischer, München, Januar 1996, ISBN: 3-88927-166-9.
- Karin Kühlwetter. Qualifikationsanforderungen und Qualifikationsentwicklungen für berufliche Tätigkeiten mit multimedialen Techniken und Systemen, HBS-Reihe Manuskripte 197, Hans-Böckler-Stiftung, Bertha-von-Suttner-Platz 3, 40227 Düsseldorf, Tel. 0211/77780.
- Vom Schriftsetzer zur Mediendesignerin: Neue Impulse für die berufliche Bildung, Interview mit Angela Abel und Frank Werneke, IG-Medien-Forum 2/96.
- Auf dem Weg zur Medienindustrie – Standpunkte für die Zukunft der Beruflichen Bildung, HV-Beschluß der IG Medien vom 29./30. März 1996.
- Zaungäste oder Weichensteller? Fünf Fragen an vier Gewerkschaften, in: Mitbestimmung. Magazin der Hans-Böckler- Stiftung 8/95, Nomos-Verlag, Baden-Baden.
- Klaus Pickshaus: Hinter den Kulissen der Multimedia-Welt:Neue Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutzprobleme, in:WSI-Mitteilungen 2/1996. Bund-Verlag, Köln.