„Der Mann ohne Vergangenheit“ von Aki Kaurismäki
Steht der Mann (Markku Peltola) vom Toten- oder vom Krankenbett auf? Mit seinem grotesken Kopfverband erinnert er erschreckend an einen Frankenstein-Versuch. Er rückt sich die dick verbundene Nase gerade, um dem Krankenhaus, in dem man ihn bereits fürs Kühlhaus vorgemerkt hat, zu entfliehen. Doch so wie man ihn zugerichtet hat, wird er in dieser Welt keine große Chance mehr haben. Dass er bei dem nächtlichen Raubüberfall, neben seiner Brieftasche, auch sein Gedächtnis verloren hat, macht ihn gänzlich zu einem Nichts.
Zwei Jungs finden ihn zusammengebrochen am Ufer eines Hafenbeckens. Auch sie halten ihn zunächst für tot. Aber ihre Eltern, Nieminen und seine Frau Kaisa, kennen sich mit solchen Situationen aus. Fernab von der Geschäftigkeit und den glänzenden Schaufenstern Helsinkis, leben sie unter den Ärmsten der Armen in einer Containersiedlung im Hafen. Nieminen und Kaisa nehmen den Fremden in ihre Obhut. Als er sich erholt hat, beginnt er sich hier ein neues Leben aufzubauen.
„Freitags gehen wir auswärts essen“, erklärt sein neuer Freund Nieminen selbstverständlich und in Schale geschmissen. Nach einem kleinen Fußmarsch erreichen sie die Armenküche der Heilsarmee. Hier tauscht der Namenlose mit der Heilsarmistin Irma (Kati Outinen) vielversprechend lange Blicke aus. Beginn einer Liebesgeschichte voll spröder Romantik und der Aussicht auf tiefe Leidenschaft.
Die Juke-Box spielt Blues und Rock’n Roll, die Stimmung steigt. Durch seine Musikvorlieben kommt der Fremde auf die Idee, die verschlafene Heilsarmee-Band zu einem neuen Sound zu bewegen. „Ich könnte auch Band-Manager sein“, versucht er seine Identität neu zusammenzusetzen. Eines Tages beginnt er sich dunkel zu erinnern. Doch dann gerät er versehentlich in einen Banküberfall …
„Der Mann ohne Vergangenheit“ des finnischen Filmemachers Aki Kaurismäki ist ein modernes Märchen. Die Dinge, die in diesem Film passieren, erscheinen so vertraut wie fremd und besitzen einen entblößenden Realismus, wenn es sich um die Profitgier und Engstirnigkeit der Menschen auf der etablierten Seite des Lebens dreht. Geschickt verfremdet Kaurismäki die Realität mit dem Einsatz kräftiger Farben, die an alte Technicolorfilme erinnern. Die auf das Wesentliche beschränkten Charaktere der Protagonisten wirken fast stilisiert und bleiben dennoch sehr menschlich. Ihre zum einen schnörkellos-klaren zum anderen eigenwillig-poetischen Dialoge bewirken eine entlarvende Situationskomik sowie betörend melancholische Momente.
Kaurismäkis Vorliebe für Rockmusik zeigt sich in seinem neuen Werk mit alten Renegade-Hits, Bluesnummern von Blind Lemmon oder den Songs der finnischen Band „Marko Haavisto & Poutahaukat“. Bereits in seinen Filmen „Wolken ziehen vorüber“ und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ arbeitete Kaurismäki mit Poutahaukat zusammen Die Truppe, die Rock’n Roll, Country und finnische Popmusik zu ihrer Tradition zählt, spielt auch für den Inhalt des Films eine wichtige Rolle. Ihr Werdegang von einer schüchternen Heilsarmee-Kapelle zu einer, zwar ebenso melancholischen, dafür aber selbstbewussten Bluesrock-Combo läuft mit der Selbstfindung des namenlosen Hauptdarstellers einher. Mit der Gesangs-Begleitung von Anniki Täthi, einer der bekanntesten und beliebtesten alten Damen der finnischen Unterhaltungsmusik, kommen wir in den Genuss äußerst herzzerreißender Nummern, beispielsweise „Kleines Herz“, ein Schlager von 1939, den sie voller Schmelz vorträgt.
„Der Mann ohne Vergangenheit“ wurde bei den diesjährigen Festspielen in Cannes zweifach ausgezeichnet. Dieser wunderbare Film zeigt berührend und erheiternd, dass Nächstenliebe, Solidarität und finanzieller Mangel nicht jeden zum naiven Vollidioten machen müssen und dass jedes menschliche Herz Stolz und Würde besitzt – und sind seine Taschen noch so leer.