Am unteren sozialen Ende der Gesellschaft
Lorna hat sich eingeschlossen. Sie will keinen Kontakt zu dem Mann, mit dem sie eine Wohnung teilt, hat ihn nur geheiratet, um ihre albanische Heimat für immer zu verlassen und in Belgien Fuß zu fassen.
Die junge Frau träumt von einer Snackbar, die sie dort mit ihrem russischen Freund eröffnen will. Illegale Geschäftemacher haben ihr den Kandidaten beschafft, der ihr den gewünschten europäischen Pass verschafft: Claudy, der als Junkie gute Voraussetzungen für eine baldige Trennung mitbringt. Doch es läuft anders als geplant: Claudy will mit Lornas Hilfe von der Droge loskommen und entwickelt sich nach diszipliniertem, erfolgreichen Entzug zu einem einfühlsamen Mitbewohner, der als Einziger für Lorna Zuneigung bezeugt. Dagegen entpuppen sich ihre Mittelsmänner als eiskalte Killer, die Claudy hinterrücks mit einer Überdosis Heroin aus dem Weg schaffen, damit das Geschäft mit den Papieren weitergehen kann: Lorna soll noch eine Scheinehe mit einem Russen eingehen.
Die belgischen Gebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne haben schon in früheren Filmen brisante gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen: Arbeitslosigkeit, Kapitalismuskritik („Rosetta“) sowie verantwortungslose, überforderte Elternschaft und Kindesverwahrlosung („L’enfant“).
In ihrem jüngsten Werk „Lornas Schweigen“ (Le silence de Lorna) geht es abermals um Menschen am unteren sozialen Ende der Gesellschaft, Immigranten und Osteuropäer, die sich fern der Heimat eine bessere Zukunft erkaufen wollen, die sie auf legale Weise nicht erlangen können. Die alles beherrschende Macht des Geldes, sie wird hier sinnlich erfahrbar, zirkulieren doch Briefumschläge mit Banknoten, stets ihre Besitzer wechselnd, durch den ganzen Film.
Erst spät emanzipiert sich die an nur wenigen Schauplätzen minimalistisch inszenierte Handlung von der Bewegung des Geldes, wenn die Protagonistin beschließt, sich dem sozialen, psychischen und ökonomischen Druck nicht länger zu beugen. – Eine Entscheidung, für die sie einen hohen Preis zahlen wird. Der beklemmende, radikale, diskussionswürdige Film begibt sich gemeinsam mit ihr auf Abwege und unternimmt eine Vielzahl überraschender Wendungen: Auf einmal entdeckt Lorna, dass sie von Claudy ein Kind erwartet, oder bildet sie sich das nur ein? Sie soll abtreiben und weigert sich. Irgendwann diagnostiziert eine Ärztin, sie sei ja gar nicht schwanger. Doch am Ende, wenn Lorna in einem Wald vor allem flüchtet, wird sie imaginär mit ihrem Kind reden und Reue zeigen für den Mord an Claudy, an dem sie sich schuldig fühlt.
„Lornas Schweigen“ ist ein komplexer Film, der die diffizile Zuwanderungsproblematik aus neutraler Distanz betrachtet ohne konkrete Lösungsvorschläge zu geben oder anklagen zu wollen – die Gesetzgeber ebenso wenig wie die „armen Schweine“, die das Gesetz in der Not überschreiten. Vor allem ist es ein facettenreiches, tiefgründiges Porträt einer ungewöhnlichen Frau, die zwar mit ihrem eigentümlichen Verhalten bisweilen provoziert, einem auch streckenweise fremd bleibt, bei aller Ambivalenz aber zweifellos auch beeindruckt mit ihrer Stärke.