Wie Luft zum Atmen

Lieder aus einem wenig beachteten Land

Trostlose Hochhaussiedlungen, herunter gekommene öffentliche Einrichtungen, Menschen ohne Geld und Arbeit: Die Bilder wirken vertraut, erinnern an ostdeutsche Vorstädte, an Filme der neuen Berliner Schule wie „Die Kinder sind tot“, „Lucy“ oder „Eine fatale Entscheidung“, nur die Stimmung ist weniger gedrückt. Die Gesichter wirken entspannter und fröhlicher, und das hat einen guten Grund: Denn in Georgien, diesem kleinen Land im Kaukasus zwischen Orient und Okzident, das die in Moskau geborene und in Berlin lebende Regisseurin Ruth Olshan bereiste, erstarren die Menschen nicht in Resignation, lassen sich auch nicht von morgens bis abends aus der Konserve mit Musik berieseln.

Vielmehr werden sie aktiv, vereinigen sich in Chören, Tanzgruppen und Instrumentalensembles, versuchen, Traditionen zu bewahren und weiterzuführen, und das in einer Zeit, in der auch Georgien im Umbruch ist. – Ein interessanter Gegenentwurf also zu unserer Welt, in der Musik weitgehend nur noch konsumiert wird, auch wenn die Education-Projekte der Berliner Philharmoniker und ein Film wie „Rhythm is it“ ebenfalls ein Plädoyer für die Kraft der Musik darstellen.
In Georgien allerdings bedarf es keiner großen Überredungskünste seitens der Lehrer: „Wenn ich nicht im Chor singen würde, würde ich auf der Strasse herumlungern“, sagt ein Junge klarsichtig, und in der Schule braucht es keinen erfahrenen Streetworker, der zappelige aufgedrehte Kinder überhaupt erst zum Tanzen motivieren muss, vielmehr proben hier die Jüngsten diszipliniert mit der gleichen Intensität wie die Erwachsenen. Was stimmlich geboten wird, erfüllt dabei keineswegs nur pädagogische Zwecke: Die Volksmusik dieser Region ist so reich, vielfältig und einmalig, dass sie von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Schöne, mehrstimmige Lieder sind das, die ihre Wurzeln im Mittelalter haben, – oft melancholisch, doch voller Kraft. Lieder, die nirgendwo aufgeschrieben, nur mündlich überliefert wurden.

„Wie Luft zum Atmen“ ist weder ein reiner Kunstfilm, noch eine Sozialreportage, aber der Film zeigt, unter welchen Bedingungen eine solche Kultur vielleicht gerade in einem so armen Land weiter blühen kann. Am Rande erfährt man auch Einiges über das gesellschaftliche Leben. Die Frauen reden nicht über Emanzipation, geben sich aber selbstbewusst, wenn sie etwa trotz strikter Geschlechtertrennung auch Männerchorlieder singen, und weil es überall nur wenig Geld gibt, haben auch Mütter gleich mehrere Jobs. Geschafft, genervt, gestresst wirken sie dennoch nicht, vielmehr schaffen auch sie sich ihre Freiräume, und vielleicht klappt die ganze Organisation auch so gut, weil overprotecting im Kaukasus ein Fremdwort ist, und die zur frühen Selbstständigkeit erzogenen Kinder ihren Eltern nicht auf den Nerven herumreiten.
Überhaupt ist es eine sympathische Gesellschaft, die Ruth Olshan bei ihren Proben, Auftritten, gemeinsamen Ausflügen begleitet, und manchmal inszeniert sie auch selber kleine Vorstellungen für die Kamera vor idyllischem Panorama. „Wie Luft zum Atmen“ ist ein kostbarer kleiner, unspektakulärer Film, der zum Nachdenken über unsere ungesunde Musikkonsumwelt anregt und das Interesse an einem Land weckt, das seltsamerweise bislang in den Medien kaum Beachtung gefunden hat.

Wie Luft zum Atmen

D 2005,
Regie: Ruth Olshan
90 Minuten

Weitere aktuelle Beiträge

Filmtipp: Code der Angst

Der Filmemacher Appolain Siewe spürt in seinem Film „Code der Angst“ der Ermordung des kamerunischen Journalisten Eric Lembembe nach. 2013 wird der junge Journalist und LGBTI*-Aktivist Lembembe in Kamerun ermordet. Dieses und weitere Verbrechen gegen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, lassen Appolain Siewe keine Ruhe. Der Filmemacher ist in Kamerun geboren und aufgewachsen und lebt heute in Berlin.
mehr »

Kriminalität nicht mit Migration verknüpfen

Kriminelle Migranten bedrohen die Sicherheit in Deutschland“ – dieses alte rechte Narrativ wird von der AfD neu belebt und verfestigt sich in der Mitte von Gesellschaft und Politik. Medien, die diese realitätsverzerrende Erzählung bedienen, weil sie meinen, die laute Minderheit repräsentiere ein öffentliches Interesse, spielen mit dem Feuer.
mehr »

Mit BigTech gegen Pressefreiheit

Der Vogel ist frei“ twitterte der US-Milliardär und Big Tech-Unternehmer Elon Musk am 28. Oktober 2022, dem Tag seiner Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter, der damals noch den blauen Vogel als Logo hatte. Der reichste Mann der Welt wollte nach eigener Aussage den Dienst zu einer Plattform der absoluten Redefreiheit machen: „Freie Meinungsäußerung ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie, und Twitter ist der digitale Marktplatz, auf dem die für die Zukunft der Menschheit wichtigen Themen diskutiert werden“, hatte er zuvor erklärt.
mehr »

Vernetzte Frauen im Journalismus

Sich als Frau in einer Branche behaupten müssen, in der Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein entscheidende Faktoren sind: Für Generationen von Journalistinnen eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten Beruf. Angesichts dieser Herausforderung sind Netzwerke und solidarische Bündnisse von großer Bedeutung. Der Journalistinnenbund (JB) hatte hierbei seit seiner Gründung im Jahr 1987 eine Vorreiterrolle inne. Sein Anliegen: Geschlechtergleichstellung in den Medien erreichen.
mehr »