Das Coronavirus kennt keinen Maifeiertag. Gewerkschaftern verlangte die Krise daher ein Umdenken ab: Abstand halten auf einer 1.Mai-Demo? Marschieren mit 20 ausgewählten Funktionären? Unmöglich! Der DGB entschied sich für eine in seiner Geschichte einmalige Kampfform: Eine Kundgebung im Internet, eine „Digitaldemo“. Was zunächst absurd klang, erwies sich als lehrreich, kämpferisch und bewegend.
Schauplatz des Livestreams: die DGB-Zentrale am Berliner Henriette-Herz-Platz. Moderiert von DGB-Kommunikationschef Timm Steinborn und TV-Moderatorin Katrin Bauerfeind, mal aus dem Foyer, mal von der – windumtosten – Dachterrasse. Auftritt Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende. Sie skizziert die schwierige Situation der Familien angesichts anhaltender Schließung von Kitas und Schulen, macht sich stark für die Verlängerung der Familien-Soforthilfe auf 80 Prozent vom Nettogehalt. Es folgen Regionalberichte aus dem Bezirk Nord, Soli-Botschaften, getreu dem diesjährigen 1.Mai-Motto „Solidarisch ist man nicht alleine!“ Dann ein Gespräch mit Schauspielerin Friederike Kempter („Tatort“ Münster) über die spezifische Rolle der Frauen in der Pandemie, „Gender Pay Gap“, Ausbeutung in Sozialberufen. Es gehe darum, nach der Krise nicht mehr „zurückzufallen in alte Muster“.
Anschließend eine erstaunlich versierte Band der IG BCE. Mit einem Gitarristen, dessen Vorbild ganz offensichtlich Carlos Santana ist. Eine Band, die mal eben in vier Minuten mit Corona, Populisten und Ausbeutern (musikalisch) aufräumt.
Vielfalt – dein Name sei DGB! In irrem Tempo wechseln Kurz-Talks mit Einspielern, Live-Schalten mit digitalen Solidaritätsbekundungen, Kulturbeiträge mit Infotainment-Einlagen. Das Spektrum der parteipolitischen Soli-Adressen reicht von Annegret Kramp-Karrenbauer über Dietmar Bartsch und Saskia Esken bis zu Annalena Baerbock. Die DGB-Bezirke liefern nicht nur Statements der jeweiligen Häuptlinge, sondern glänzen mit phantasievollen inhaltlichen Beiträgen: aus dem Norden erfährt man von der „Job-Parade“ in Schwerin, angeblich die zweitgrößte Techno-Parade des Landes mit dem „Tanz für mehr Arbeit“ jedes Jahr am 1. Mai von 1998 bis 2005. Der DGB Rheinland-Pfalz wartet auf mit einem Rückblick auf berühmte Landeskinder, die wertvolle Beiträge zur Verbesserung der Lebensqualität geliefert haben – darunter auch Karl Marx und Fritz Walter. Zwei Heidelberginnen parlieren von Balkon zu Balkon über die Situation von Auszubildenden in Baden-Württemberg. Eine Krankenschwester, eine Pädagogin und eine Kollegin aus dem Einzelhandel aus Bayern machen klar, dass sie sich nicht mit billigem Applaus abspeisen lassen, sondern als „Systemrelevante“ anständig bezahlt werden wollen. Dazwischen immer wieder hervorragende Kulturbeiträge. Singer/Songwriter Sarah Lesch kann der Corona-bedingten Isolation in „Der Einsamkeit zum Trotze“ auch Positives abgewinnen: Ruhe und „Einkehr bei sich selbst“. Heinz-Rudolf Kunze arbeitet sich an der Figur des „Laumichel“ ab, dem „Mitschlurfer“, gehorsam aus Bequemlichkeit, dem „Lemmingtrotteligen“, mit dem aus Sicht der Herrschenden „prima Staat zu machen ist“. Zugleich zeigt sich Kunze verblüfft darüber, „wieviel Empathie und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft“ sich aktuell rührt. Die Liedermacherin Dota, Kleinkunstpreisträgerin 2019, wettert gegen jedweden Nationalismus und wünscht sich „einen Pass, wo einfach nur ‚Erdenbewohner‘ drinsteht“.
Auch die „harten“ gewerkschaftlichen Themen kommen nicht zur kurz. Für DGB-Bundesvorstands-Mitglied Stefan Körzell zeigt sich in der Krise – gerade im Vergleich zur Rekordarbeitslosigkeit in den USA – wie wichtig Tarifverträge sind. Wo sie gelten, in der Automobilindustrie, der Chemischen Industrie, im kommunalen öffentlichen Dienst und anderswo werde „das Kurzarbeitergeld auf zum Teil 90 oder gar 100 Prozent aufgestockt“. Das sichere Arbeitsplätze und Einkommen von Millionen von Beschäftigten.
„Solidarität hat in der Corona-Krise eine ganz neue Bedeutung gewonnen“, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann, „wir kämpfen dafür, dass die Kosten der Krise nicht an den Beschäftigten hängenbleiben“. Zur Sicherung der Beschäftigung bedürfe es jetzt eines „zielgerichteten nachhaltigen Konjunkturprogramms“. Und zwar „nicht nur zur Wiederankurbelung der Wirtschaft“, sondern auch zur Lösung der schon vor der Krise bestehenden Probleme. Hoffmann: „Die Klimakrise und der digitale Wandel machen auch vor dem Virus keinen Halt.“
Der DGB-Chef ist auch an einem Kurz-Talk über das DGB-Projekt „Zukunftsdialog“ beteiligt – gemeinsam mit ver.di-Betriebsrätin Isabel Senff von der Deutschen Post AG und Ulrich Khuon, dem Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins. Soll jede/r Bürger*in nach der Krise einen Konjunktur-Gutschein im Wert von 200 Euro erhalten? Brauchen wir einen grünen Marshallplan? Ein Stichwort, das Moderator Steinborn später mit einem spontan eingebauten Interview mit Fridays-for-Future-Aktivist Maximilian Reimers aufgreift. Tessa Högele (ze.tt/Die Zeit) erläutert aus intimer Kenntnis der prekären Arbeitsbedingungen in der Startup-Branche, warum sie heutzutage die Selbstorganisation in der Gewerkschaft für notwendig hält.
Auch ver.di-Vorsitzender Frank Werneke liefert ein Grußwort ab. Ausführlicher hatte er sich bereits tags zuvor beim Wechsel des ver.di-Banners am Berliner Schiffbauerdamm („Für jetzt. Für morgen. Füreinander. #WIRSINDVERDI“) per Videobotschaft geäußert. Das Leben sei durch die Ausbreitung des Coronavirus „wie auf den Kopf gestellt“. Wesentliche Grundrechte seien eingeschränkt. Aber: „Alle Einschränkungen demokratischer Grundrechte, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, dürfen nur solange gelten, wie das zur Eindämmung des Coronavirus unabdingbar ist.“ Ein Blick nach Ungarn zeige, wie nah die Gefahr ist, dass unter dem Vorwand der Bekämpfung des Virus die Demokratie zerbrochen werde.
In Bezug auf das Lob für die „Helden und Heldinnen des Alltags“ sagte Werneke, viele der systemrelevanten Tätigkeiten, beispielsweise in der Pflege und im Handel, seien viel zu schlecht bezahlt. Gesellschaftliche Anerkennung reiche daher nicht. „Wenn der Höhepunkt dieser Pandemie überwunden ist, und wir wieder gemeinsam auf die Straße gehen können, wenn notwendig auch gemeinsam streiken können, dann werden wir genau das Tarifvertrag für Tarifvertrag aufrufen. Für bessere Bedingungen, für eine bessere Bezahlung und die Aufwertung der Berufe, in denen insbesondere viele Frauen tätig sind.“
Altbarde Konstantin Wecker warnte, live zugeschaltet aus München, vor einem Erstarken des Rechtsextremismus. Mit seinem Lied „Das Leben will lebendig sein“ erinnerte er an den 8. Mai 1945 und die Befreiung vom Faschismus.
Das Schlusswort für den DGB sprach die scheidende Bundesvorstandsfrau Annelie Buntenbach. Die Krise habe gezeigt, wie wichtig soziale Sicherungssysteme seien. Die Menschen könnten sich auf die Arbeitslosenversicherung, die Krankversicherung und auf verlässliche Rentenzahlungen verlassen. „Das kann kein privatisiertes System, kein Kapitalmarkt und auch kein Gesundheitssystem leisten, wenn es sich immer mehr an Rendite und Wettbewerb orientiert statt an einer guten Versorgung und dem Gemeinwohl.“
Nach gut drei Stunden endet der Livestream. Ein Ersatz für landesweite kämpferische Mai-Demonstrationen auf der Straße war er nicht. Aber dennoch alles andere als eine Notlösung.
(Screenshots: Karin Wenk)
Update 1. Mai 22:35
dju in ver.di verurteilt Angriff auf Team der „Heute-Show“ aufs Schärfste
Das ZDF-Team der Satiresendung „heute-show“ wurde am 1. Mai in Berlin-Mitte von Unbekannten attackiert. Der Angriff sei erfolgt, als das Team nach einem Dreh auf dem Weg zurück zu seinen Fahrzeugen war, teilte der Sender mit. Weitere Details seien noch nicht bekannt. „Mehrere Teammitglieder sind im Krankenhaus, unser Reporter Abdelkarim ist unverletzt“, heißt es in einem Tweet der „heute-show“ auf Twitter.
Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di verurteilt den Angriff aufs Schärfste. Sechs Verdächtige aus einer Gruppe von 15 Jugendlichen wurden nach Angaben der Polizei festgenommen: „Das war ein Angriff auf die Pressefreiheit, der nicht zu rechtfertigen ist und aufgeklärt werden muss. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, forderte die Bundesgeschäftsführerin der dju in ver.di, Cornelia Berger und wünschte den Verletzten baldige Genesung.
Immer wieder sei in der zurückliegenden Zeit, vor allem von rechts, versucht worden, mit Gewalt und Androhung von Gewalt Berichterstattung zu verhindern: „Wir haben es mit einer veritablen Gefahr für die freie Berichterstattung zu tun, wenn Kolleginnen und Kollegen bei ihrer journalistischen Arbeit Angst um sich und ihre Familien haben müssen. Das ist ein Alarmsignal auch für die politisch Verantwortlichen“, erklärte Berger in einer Medieninformation.