„Ohne Rabbatz geht nichts“

Junge Leute, alte Erkenntnisse und eine ganz andere Struktur – der schwere Weg einer eingesessenen Gewerkschaft ins neue Europa.

Wenn sich der Drucker in „seiner“ Gewerkschaft nicht mehr wiederfindet, wenn sich der Musiker in derselben Gewerkschaft nicht heimisch fühlt, wenn die jungen Leute und überhaupt die Menschen nicht mehr daran glauben, daß unsere Gesellschaft auf dem Prinzip der Mitwirkung aller Beteiligten aufgebaut ist – dann gehen den Hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären die Lichter aus und die Ehrenamtlichen streichen die Segel. Ein düsteres Bild der IG Medien, das der Landesbezirkstag Baden-Württemberg so nicht hinnehmen will. In Sindelfingen warfen Druck und Papier, Publizistik und Kunst ihre Kapazitäten zusammen und entwarfen die Vision von der „Zukunft der Gewerkschaften in Deutschland und Europa“.

Wir kennen es zur Genüge, wenn bei Landesbezirkstagen die Rechenschaftsberichte vom Mitgliederrückgang erzählen, daß überhaupt kein Geld da sei und wie umfassend sich doch die Funktionäre haupt- und ehrenamtlicher Provenienz eingesetzt hätten. Wofür? Für die Interessen der Beschäftigten. Dummerweise honorieren diese das nicht.
Nun hatte die Gewerkschaftsbewegung immerzu betont, daß die „Trittbrettfahrer“ schlechte Menschen seien, weil sie die Errungenschaften der Tarifauseinandersetzungen nutzten, aber selber nichts zu ihrer Erringung beitragen würden. Aus der Not soll nun eine Tugend gemacht werden, wenn es nach Detlef Hensche geht, dem Chef der IG Medien bundesweit. Er diskutierte in Sindelfingen mit den Landesdelegierten sowie dem Politologen Klaus Dörre, dem Präsidenten des Wuppertaler Klimainstituts Ernst-Ulrich von Weizsäcker und der Aktionskünstlerin Ute Würfel aus Ostdeutschland über die „Zukunft der Gewerkschaften in Deutschland und Europa“.
Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von der bayerischen Fernsehjournalistin Corinna Spies. Für Hensche ist es eigentlich nichts Neues und er sagt es seinen Mitgliedern immer wieder: Die Gewerkschaft ist 120 Jahre alt, die Strukturen sind verkrustet, „wir zelebrieren unsere Verfahrensregeln“; den innergewerkschaftlichen „Willensbildungsprozeß müssen wir neu organisieren“, wobei man gerne auch mal wieder auf Marx & Engels zurückgreifen dürfe. „Die Jungen sehen derzeit in unserer Organisation keinen Sinn für sich“, gibt Hensche der jungen Aktionskünstlerin Recht.
Ute Würfel hatte moniert, daß sie als Neue in ihrer Fachgruppe sogleich in einen Vorstand gewählt wurde, obwohl sie sich „als junger Mensch nicht überreden lassen“ wollte. Es fehle am Respekt, an Wachsen lassen, und sie habe den Eindruck, „die Ehrenamtlichen sind eh die Deppen der Nation“. Die Themen in der IG Medien seien zwar gut, aber „verdammt schlecht verpackt“. Alte, innergewerkschaftliche Konflikte „interessieren mich nicht“, beklagt sie und erzählt den Versammlungsprofis, wie öde die Austragung von Meinungsverschiedenheiten sei, die offenbar oft auf jahrealten Animositäten beruhten.
„Die Sprache funktionalisiert“ meint Würfel und bemängelt die stereotype Form, in der Gewerkschaftsveranstaltungen regelrecht „abgewickelt“ werden. Hensche stimmt zu und fragt, „wie überwinden wir Wahrnehmungssperren“? Die Belange der Jugend beispielsweise kommen in der „Betriebsrätegewerkschaft“ kaum vor. Die jungen Leute würden sich nämlich sehr wohl engagieren, aber eben nicht in einer uralten Organisation, die dummerweise mit einem Instrumentarium hantiere, das „leider immer noch auf Wachstum orientiert“ ist. „Mit Umverteilung der Arbeit tun wir uns schwer, auch mit Umverteilung des Reichtums“.
Die Gewerkschafter müssten die Aktionsformen der Jugend erkennen, auf sie zugehen, sie begleiten und daraus lernen. Die Arbeitgeber seien da weiter. Sie kennen die Interessen der jungen Leute und binden sie in die Betriebsabläufe ein. Die Gewerkschaft müsse mit den Menschen auch dann zusammenarbeiten, wenn diese eben gerade „keine Vereinsmitgliedschaft“ wollten.
Zudem gelte es, den Blick der Gewerkschafter zu erweitern. „Die Drangsal in den Betrieben ist nur ein Teil des Lebens“, erinnert Hensche und erläutert, „das Private ist politisch, wenn zum Beispiel der Vater nur vier Minuten am Tag Zeit hat, mit seinen Kindern zu sprechen“. Dies treffe auch dann zu, wenn der Vater ein engagierter Gewerkschafter ist, denn offenbar genüge es nicht, „zu warten, bis die Deutsche Bank sozialisiert ist“ und zu hoffen, dann werde alles besser. Man müsse „den Blick auf die Eigenaktivität lenken, das ist Selbsthilfe und damit klassisch gewerkschaftlich“. Für Hensche ist klar, daß die Gewerkschaft auf die persönliche Lebensqualität achten muß. Denn „Opfer sind auch Täter“, wenn sie es sich gefallen lassen, bis hinein ins Privatleben instrumentalisiert zu werden.
Für Dörre, Professor in Erfurt, stellt sich die Frage, „was ist Arbeit“? Eine Umverteilung von Arbeit, etwa im Sinne von nachhaltiger Ökologie oder sozialverträglicher Aufgabenteilung, könne nur mit gesellschaftlich nützlichen Zielen geschehen. Man müsse lernen, „Politik von unten zu denken“. Die Demokratie im Betrieb habe längst der Arbeitgeber mit diversen Kooptationsmodellen besetzt. Und von der Jugend „haben wir sowieso keine Ahnung“. Wer von uns mutig sei, der hoffe bei den jungen Leuten „auf Rabbatz“, auch in den eigenen Reihen.
Von Weizsäcker sieht ebenfalls nur dann eine Möglichkeit, auf die herrschenden Strukturen einzuwirken, wenn „die Völker Europas ihre Muskeln spielen lassen“ und sich nicht nur auf Parteien und Gewerkschaften verlassen, sondern selber Aktionsformen entwickeln. Für ihn ist das Jahr 1990 ein „historisches Datum wie 1945 oder 1848“. Denn zu diesem Zeitpunkt habe die Konkurrenz der Gesellschaftssysteme zwischen Ost und West aufgehört. Statt dessen herrsche nun ein „Wettbewerb der Absahner“. Seitdem gebe es einen stets zunehmenden Raubbau an der Umwelt und an der sozialen Gerechtigkeit.
Was man als Soziale Marktwirtschaft in der Systemauseinandersetzung errungen habe, so von Weizsäcker, werde seit 1990 stetig abgebaut. Dies müssten die Medien in die Köpfe der Menschen transportieren. Auf nationaler Ebene könne man dagegen wenig tun, „sonst gehen die Konzerne in der Tat auf die Kaimaninseln oder in die Schweiz“. So war sich dann die Versammlung weitgehend einig: Die Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ gilt nach wie vor (dies habe man bislang verpennt, dafür haben in Sachen weltweiter Vereinigung die Konzerne bereits einiges voraus). Allerdings müsse die Gewerkschaft völlig andere Handlungsformen als bislang entwickeln. Bisheriges müsse deswegen nicht über Bord geworfen werden, denn, so Hensche zum Trost für die Funktionäre, es gebe eine „Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen“.

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