Für EU-weiten Alarm bei unabhängigen Presse- und Medienräten sowie bei Medienverbänden und Journalisten-Gewerkschaften hatte Anfang 2013 eine von 29 Empfehlungen einer „High Level Group“ der EU-Kommission zur Sicherung von Freiheit und Pluralismus der Medien gesorgt. Beim Jahrestreffen der Vereinigung unabhängiger Presseräte in Europa (AIPCE) im September in Israel wurde sie verworfen.
Die Kernpunkte der Empfehlung: Alle EU-Länder sollten über unabhängige Medienräte verfügen, die politisch und kulturell ausgewogen sowie sozial vielfältig besetzt sind. Solche Gremien wären zuständig für die Untersuchung von Beschwerden. Medienräte sollten über echte Durchsetzungsbefugnisse verfügen, um beispielsweise Bußgelder zu verhängen, die Veröffentlichung von Entschuldigungen anordnen oder die Berufszulassung für journalistische Tätigkeiten entziehen zu können. Nationale Medienräte sollten sich an eine Reihe europaweiter Normen halten und von der Kommission beaufsichtigt werden.
Das Begräbnis dieser Vorschläge verkündete nun die Chefin der Abteilung für „Zusammenwachsen der Medien“ bei der EU-Kommission, Lorena Boix-Alonso in Tel Aviv: „Wir wollen keine Standards für Presseräte setzen.“ Gegenüber Teilnehmern sagte sie, die EU-Regulierung für AV-Medien sei – mit Ausnahme von Frankreich – akzeptiert. Soweit es die Presse-Selbstregulierung behandle sei das Papier tot; es gebe auch keine Wiederbelebungschance.
Die Empfehlung wurde als Versuch verstanden, etablierte und wirksame nationale Formen der Medien-Selbstregulierung durch staatsregulierte, rechtsförmige Aufsicht und Kontrolle zu ersetzen. Denn ohne Einbindung in das jeweilige Rechtssystem und gesetzlichen Richter wären Eingriffe in die Berufsausübung und Bußgelder kaum umsetzbar. Ein Alptraum für alle, die bereits Erfahrung mit staatlich organisierter Kontrolle von Journalismus gemacht haben oder noch machen müssen.
Für Aufhorchen sorgte bei der Konferenz eine Bemerkung der UNESCO-Medienexpertin Adeline Hulin (Wien) zur Verknüpfung von Medien-Selbstregulierung und Justiz: In Medien-Prozessen „beziehen sich mehr und mehr Gerichte in westlichen Ländern auf Entscheidungen von Presseräten“. Das habe eigene wissenschaftliche Arbeit ergeben. Auf Nachfrage von M relativierte Hulin: Es gebe Berichte über Einzelfälle, in denen Presseratsvoten Gegenstand von Prozessen geworden seien. Belastbare empirische Daten dazu gebe es jedoch nicht.
Presseräte definieren ihre Unabhängigkeit wesentlich über die Trennung von Justiz und Selbstregulierung. Nur sie erlaubt es, auf der Basis eigener ethischer Normen im Einzelfall zu anderen Bewertungen zu kommen als die Justiz bzw. Veröffentlichungen oder Verhalten zu beurteilen, für die es im Justizsystem keine Regeln gibt. Das AIPCE-Treffen 2014 wird sich voraussichtlich erstmals mit der Selbstdefinition befassen. Derzeit gibt es keine Regeln für die Vereinigung. Nicht einmal für die Frage, wer ist „europäisch“.