Meinungs- und Pressefreiheit stehen in Algerien so heftig unter Druck wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Journalist*innen werden eingeschüchtert, systematisch an ihrer Arbeit gehindert, gar verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Seit 2019 ließ die Regierung den Zugang zu mindestens 16 regimekritischen Nachrichten-Websites sperren und verabschiedete Gesetze, die als Frontalangriff auf die freie Presse bewertet werden. Entspannung ist nicht in Sicht.
„Bald werde ich mich der Justiz stellen und die Ehre haben, inhaftiert zu sein.“ Mit diesen Worten reagierte der Journalist Adel Sayed kürzlich in einem Facebook-Post auf ein Urteil eines Gerichts in Tébessa im Osten Algeriens. Der Reporter eines lokalen Radiosenders, für den er nach eigenen Angaben seit mehr als 26 Jahren arbeitet, war soeben von der Justiz in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Der Vorwurf: „Verbreitung von Falschinformationen, die die Sicherheit und die öffentliche Ordnung gefährden könnten“. Das Gericht verfügte einen Haftbefehl gegen Sayed und die sofortige Auflösung seines Arbeitsvertrages.
Was genau Sayed zur Last gelegt wird und wer hinter dem Prozess gegen ihn steht, ist weiter unklar. Nach Angaben der Internetzeitung „TSA Algérie“ war er in den letzten Jahren bereits mehrfach aus politischen Gründen vor Gericht gezerrt worden. Zuletzt hatte ihn Mohamed Djemai wegen Diffamierung verklagt. Der ebenfalls aus Tébessa stammende Parlamentarier hatte in den Wirren des Aufstandsjahres 2019 kurzzeitig die Führung der seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 fast durchgängig regierenden Nationalen Befreiungsfront (FNL) übernommen, war dann aber selber ins Fadenkreuz der Justiz geraten und kurz darauf verhaftet worden. Nach einem Jahr hinter Gittern war Djemai Ende 2020 freigelassen und danach im Februar in einem Revisionsverfahren freigesprochen worden.
Regierung und Militär schlagen zurück
Überraschend ist das jetzige Urteil gegen Reporter Sayed derweil keinesfalls, gehen nationale Behörden doch seit 2019 auf Zuruf von algerischen Spitzenpolitiker*innen und Regimeprofiteur*innen verstärkt gegen Journalist*innen, Onlinemedien und in sozialen Netzwerken geäußerte Regierungskritik vor. Hintergrund der Repressionswelle gegen Algeriens freie Presse ist der Versuch des immer autoritärer agierenden Regimes, die Kontrolle über die Diskurse im Land und den öffentlichen Raum zurückzuerlangen.
Der im Februar 2019 ausgebrochene friedliche Massenaufstand gegen die herrschende Klasse hatte das Regime in beeindruckender Manier zum Wanken gebracht und die hinter den Kulissen regierenden Generäle wenige Wochen später dazu gezwungen, den seit 1999 amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika abzusetzen. Die Proteste gingen jedoch weiter. Die Armee widersetzt sich seither konsequent den Forderungen der Protestbewegung – im Land meist „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“) genannt – nach echten politischen Reformen und einer Entmachtung der Militärs. Doch erst nach 13 Monaten ununterbrochener Massenmobilisierung drehte sich das Blatt im März 2020 zu Gunsten des Regimes, zwang die Corona-Krise doch den Hirak, seine allwöchentlichen Proteste vorerst einzustellen.
Das Regime attackiert vor allem Journalist*innen
Seither geht Algeriens Justiz- und Polizeiapparat im Windschatten der Pandemie gezielt und zunehmend gewaltsam gegen Oppositionelle und Aktivist*innen vor, ließ tausende Demonstrant*innen verhaften und versucht mit allen Mitteln, regierungskritische Medien mundtot zu machen. Auf die jüngste Protestwelle im Frühjahr 2021 reagierte die Polizei mit regelrechten Prügelattacken gegen Demonstrierende. Journalist*innen sind seither ein Primärziel des Regimes. Allein bei den Protesten am 14. Mai in Algier und anderen Städten wurden mindestens 18 Reporter*innen vorläufig verhaftet – ein klares Warnsignal an regierungskritische Medien, die es bis heute wagen, über Hirak-Demonstrationen zu berichten.
Die Regierung geht jedoch nicht nur auf der Straße eskalierend und unnachgiebig gegen unabhängige Berichterstattung und oppositionelle Medien vor, sondern auch im Internet. Seit 2019 ließen die Behörden den Zugang zu mindestens 16 regimekritischen Nachrichten-Websites im Inland sperren. TSA Algérie, Radio M, Maghreb Emergent, Twala, Tariq News und andere Onlinemedien können in Algerien seither nur über VPN- und Proxy-Server aufgerufen werden. Immer wieder werden Journalist*innen, Aktivist*innen oder Oppositionelle seither zudem wegen Meinungsäußerungen oder regierungskritischer Berichterstattung in sozialen Netzwerken verhört, verhaftet und angeklagt. Dutzende Medienschaffende wurden seit 2019 auf Grundlage fadenscheiniger Beschuldigungen von Algeriens Justiz zu teils empfindlichen Haft- und Geldstrafen verurteilt.
Freiräume für Berichterstattung eingeengt
Der prominenteste Fall ist der von Khaled Drareni. Der Gründer des algerischen Internetmediums „Casbah Tribune“ und Korrespondent von Reporter ohne Grenzen (RSF) war im Frühjahr 2020 verhaftet und kurz darauf zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Zwar ist er wieder auf freiem Fuß, doch RSF bleibt in Sachen Repressalien gegen Reporter*innen in Algerien wenig optimistisch. „Die Online-Repression ist auch deshalb so gefährlich, weil damit die häufig einzig noch verbliebenen freien Räume für Journalist*innen immer kleiner werden. Das behindert die freie Berichterstattung im konkreten Einzelfall, hat aber darüber hinaus auch einen abschreckenden Effekt auf andere kritische Journalist*innen“, erklärt Christopher Resch, Sprecher von RSF in Deutschland, gegenüber M.
Abschreckend wirken dürften auch mehrere seit letztem Jahr verabschiedete Gesetzesnovellen, die dem Regime zusätzliche Mittel in die Hand geben, gegen unliebsame Berichterstattung vorzugehen. Damals hatte die Regierung eine Reform des Strafgesetzbuches und ein Gesetz gegen die Verbreitung von Hassreden und Diskriminierung durch die Institutionen gepeitscht. Beide Novellen werden, wie zu befürchten war, bereits gegen Journalist*innen eingesetzt.
Schon seit April sitzt der Reporter Rabah Karèche im südalgerischen Tamanrasset hinter Gittern. Er hatte für die linksliberale Tageszeitung „Liberté“ über Proteste der Tuareg-Nomad*innen in der Region berichtet und muss sich heute wegen angeblicher Verstöße gegen die neuen Gesetze vor einem Strafgericht verantworten. Ein im westalgerischen Oran laufender Prozess gegen die Journalist*innen Jamila Loukil und Said Boudur lässt die Alarmglocken gar noch lauter schrillen, versucht doch die Staatsanwaltschaft, beide wegen absurder Terrorismusvorwürfe zu belangen.