Der Kreml verhinderte die freie Berichterstattung russischer Medien über das Geiseldrama
„Wo wart ihr, verdammt noch mal!?“, herrscht eine Frau vor dem Kulturhaus von Beslan am vergangenen Sonntag einen russischen Journalisten an. Hunderten Korrespondenten westlicher Medien habe sie bereits Auskunft gegeben und nun erst komme er. Der Kollege von der Lokalzeitung kniet demütig vor der Frau, die an einem Tisch die Namen der vermissten Opfer des Geiseldramas notiert.
Die Verwandten bringen Fotos, Aufnahmen von Familienfeiern und Kinderbilder, die sich in den darauf folgenden Tagen auf den Titelseiten der russischen Tageszeitungen wiederfinden. Wut, Hohn und Spott mussten die russischen Medien, besonders die Sender des Staatsfernsehens in den vergangenen Tagen über sich ergehen lassen. Während CNN und BBC, ARD und RTL, n-tv und andere deutsche Sender am Freitag vergangener Woche längst live über die dramatische Geiselbefreiung in Beslan berichteten, hielten der „Erste Kanal“ und „Rossija“ es nicht für nötig, ihre Programme zu unterbrechen. Die Dokumentarreihe „Die Welt der Abenteuer“ lief auf „Rossija“, während in Beslan die Kinder starben.
CNN, BBC und die deutschen Programme profitierten derweil von der Arbeit der russischen Kollegen in Beslan. Nicht wenige Bilder, die den Freitag über im westlichen Fernsehen gezeigt wurden, waren von den Kameraleuten der russischen Sender aufgenommen. Die Aufnahmen wurden direkt nach Moskau überspielt und unter anderem über die European Broadcasting Union (EBU) weitergegeben. Die Einheiten des russischen Katastrophenschutzministeriums, die am Freitag kurz vor Beginn der dramatischen Ereignisse von den Terroristen die Erlaubnis erhalten hatten, Leichen auf dem Schulhof zu bergen, wurden von Kamerateams der russischen Sender begleitet. „Niemand war in Beslan so nah dran wie die Russen,“ sagt der Korrespondent des ZDF, Roland Strumpf. „Was auch kein Wunder ist, denn viele der Sender waren gleich mit sechs Kamerateams vor Ort.“ „Die Russen haben einen großen Aufwand betrieben,“ bestätigt auch der Korrespondent des Schweizer Fernsehens DRS, Gregor Sonderegger. Die Informationen, die Bilder, alles war vorhanden – nur live senden konnten es die Kanäle des staatlichen russischen Fernsehens nicht, offenbar auf Anweisung des Kreml, der die Programme weitgehend kontrolliert. Die viel gescholtenen Kollegen des russischen Staatsfernsehens gaben auch Informationen an westliche Korrespondenten weiter. „Die Zusammenarbeit mit den russischen Fernsehleuten ist gut,“ sagt Roland Strumpf.
Und die russischen Zeitungen? Die Iswestija brachte am vergangenen Sonnabend eine Ausgabe heraus, die schon jetzt als legendär bezeichnet werden darf. Ein ganzseitiges Foto auf der Aufschlagseite, ein weiteres auf der letzten Seite der Zeitung rahmten eine penibel recherchierte Berichterstattung. Viele Informationen über den Hergang der Ereignisse, die sich im Nachhinein bestätigten, veröffentlichte die Iswestija bereits am Sonnabend. So unter anderem, dass es bewaffnete Verwandte der Geiseln waren, die sich in vorderster Front am Sturm der Schule beteiligten. Ein scharfer Kommentar der Redakteurin Irina Petrowskaja rundete die Ausgabe ab. Über eine Stunde habe es gedauert, schrieb Petrowskaja, bis der „Erste Kanal“ sich dazu durchgerungen habe, „zehn Minuten!“ über die dramatischen Ereignisse in Beslan zu berichten. „Ein Rekord. Anschließend sendeten sie, als sei nichts vorgefallen, die Serie ,Verliebte Frauen‘.“
Den Chefredakteur der Iswestija, Raf Schakirow, kostete die Sonnabendausgabe seinen Job. Die großformatigen Fotos hatten angeblich den Ärger des Herausgebers, Rafael Akopow, erregt. „So macht man keine Zeitung“, wird er zitiert. Doch wird es weniger die Aufmachung als der Inhalt der Ausgabe vom Sonnabend gewesen sein, der den Rauswurf Schakirows provozierte. Die Zeitung hatte harsch kritisiert, wie der Kreml mit der Geiselnahme umgegangen war. Ein Redaktionsmitglied der Iswestija erklärte der englischsprachigen „Moscow Times“, der Kreml habe die Entlassung Schakirows gefordert. Wer lancierte das Video? Das Auftauchen eines Videos, das die Terroristen noch während der Geiselnahme im Innern der Schule aufgenommen hatten, sorgte am Dienstag für weitere Verwirrung. Wer das Video ausgerechnet an den Fernsehsender NTW weiterleitete, der das Band bisher ein einziges Mal ausstrahlte, ist unbekannt. Wahrscheinlich aber ist, dass der FSB die Veröffentlichung des Videos lancierte. Wenn es so ist, dann hätte der russische Geheimdienst den Chefredakteuren der staatseigenen Sender ihre Kreml-treue Berichterstattung aus Beslan nicht gelohnt. NTW gilt auch nach seiner Übernahme durch den staatsnahen russischen Konzern Gasprom nicht gerade als Liebling des Kreml.
Katja Tichomirowa
Berliner Zeitung, 9.9.2004
Forderung an Putin
Zwei Journalisten ermordet, 15 Journalisten angegriffen und 18 verhaftet sowie zahlreiche Medien zensiert oder geschlossen – das ist die Bilanz von Reporter ohne Grenzen zur Pressefreiheit in Russland allein für dieses Jahr. In einem Offenen Brief fordert Reporter ohne Grenzen Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf, sich dringend für eine unabhängige Berichterstattung sowie für die Sicherheit von Journalisten in seinem Land einzusetzen. Auch soll Putin sich wirtschaftlich und politisch für unabhängige Medien engagieren anstatt sie gezielt zu schwächen.