Bissig und aufmüpfig

The Clinic – eine der wenigen unabhängigen Medienstimmen in Chile

„The Clinic“ begann eigentlich als Flugblatt, das sich über Pinochet lustig machte. 12 Jahre später ist sie die meistgelesene Zeitschrift Chiles und behauptet sich auf einem Printmarkt, den zwei Großverlage unter sich aufgeteilt haben. Der Gründer und Chefredakteur hat keine journalistische Ausbildung, aber er kann den Erfolg erklären.


Die Fußgängerzone in Santiago de Chile ist für die Fünf-Millionen-Stadt ein wenig zu eng geraten. Morgens hetzen hier die Banker in Anzug und Krawatte vorbei, nachmittags drängen sich mit Einkaufstüten beladene Angestellte aus dem Zentrum. Eine Büroangestellte Mitte dreißig bleibt amüsiert an einem Zeitungskiosk stehen. Eine Zeitschrift, die auf spanisch erscheint, obwohl sie den englischen Namen The Clinic trägt, macht sich ziemlich schamlos über einen populären Showmaster lustig, der eine Vaterschaftsklage am Hals hat. „Ich lese The Clinic meist bei meiner Schwiegermutter“, sagt sie. „Und wenn ich mal nicht dazu komme – die Titelseiten kenne ich immer.“ Die Titelseiten sind der Blickfang des Magazins im Zeitungsformat. Juan, der Betreiber des Kiosks, kann das bestätigen: „Wenn ein wirklich bissiger Titel rauskommt, wenn sie wirklich jemandem wehtun, dann verkauft sie sich besonders gut.“

Blatt mit den meisten Lesern

The Clinic ist eine Ausnahmeerscheinung in der chilenischen Presselandschaft. Das aufmüpfige Magazin vermischt Satire, beißenden Spott und engagierte Reportagen so munter, dass dem ungeübten Leser ganz schwindelig wird. Engagierte Sozialreportagen und kluge politische Analysen stehen direkt neben Bild- und Wortwitzen, die weit unter der Gürtellinie operieren. Der Spott trifft die Politiker des Landes ebenso wie überhebliche und peinliche Prominente.
„Wir sind in Chile die Zeitschrift mit den meisten Lesern“, sagt Gründer und Chefredakteur Patricio Fernández (Foto) und zündet sich eine Zigarette an. Er weiß, dass The Clinic kein Konsensblatt ist und findet den Erfolg manchmal selbst erstaunlich. 110.186 Leser hat das Magazin nach den letzten Erhebungen des chilenischen Werbeverbandes ACHAP jede Woche, und das bei einer verkauften Auflage von 22.524 Exemplaren. Keine andere chilenische Zeitschrift wird so oft weitergereicht. Und sie ist der einzige nennenswerte Titel, der kein Special Interest-Blatt ist.
Die Redaktion hat ihr Büro nicht weit von der Fußgängerzone, in der Calle Santo Domingo im sechsten Stock eines Altbaus mit Blick auf den Park. Keine zehn Mitarbeiter sitzen in den spärlich eingerichteten Räumen. Als Fernández The Clinic 1998 mit einigen Freunden – Schriftsteller wie er, Maler und Designer – an seinem Computer zu Hause ein vierseitiges Pamphlet erstellte, ahnte er nicht, dass daraus einmal ein wöchentliches Magazin mit vierzig Seiten werden sollte. Damals war der Ex-Diktator Augusto Pinochet in London nach einem Klinikaufenthalt festgenommen worden. „Die Zeitungen beklagten die Festnahme als einen Eingriff in die Souveränität Chiles. Wir hingegen waren sehr glücklich über die Festnahme“, sagt Fernández. Sie druckten eine Reihe von Flugblättern, auf denen sie sich über den gefallenen Diktator lustig machten. Den Kopf der Titelseite zierte das Türschild der Londoner Klinik.
Die Gründer beschlossen bald, ein zweiwöchentliches Heft herauszubringen. Nach zwei Jahren stellten sie erstmals zwei Journalisten als Redakteure ein. Dass die Zeitschrift heute eine Mischung von Satire und Politik verkörpert, erklärt Fernández mit der mangelnden Vielfalt in der Presselandschaft des Landes. „Hätten wir uns in Deutschland oder Frankreich gegründet, wären wir vielleicht bei der Satire geblieben“, sagt er. „Aber hier sahen wir uns gezwungen, auch gründliche soziale und politische Reportagen zu schreiben.“ Der grobe Spott ist das Geschenkpapier, in das Fernández die ernsten Themen verpackt. Als Pinochet 2006 starb, ohne für seine Verbrechen verurteilt worden zu sein, titelte The Clinic: „Der Zechpreller hat wieder nicht gezahlt.“
Den chilenischen Zeitungsmarkt teilen zwei große Unternehmen nahezu allein untereinander auf. Der Verlag El Mercurio gibt mit der gleichnamigen Zeitung und Las Ùltimas Noticias die beiden größten landesweiten Tageszeitungen und neunzehn Regionaltitel heraus. El Mercurio gehört seit Generationen der chilenischen Bankiersfamilie Edwards. In der Zeit der Militärdiktatur von 1973 bis 1989 zählte das Blatt zu den treuesten Verbündeten Pinochets und wurde von der CIA finanziell unterstützt. Bis heute ist die Linie klar konservativ. Die dritt- und viertplatzieren Titel, das Boulevardblatt La Quarta und die seriöse Tageszeitung La Tercera, gehören dem Verlag COPESA, der politisch das gleiche Spektrum bedient. The Clinic ist eine der wenigen unabhängigen Stimmen in dieser ziemlich gleichförmigen Presselandschaft.

Nicht im Ton der Anklage

„Wer Chile nur anhand seiner Medien kennt, bekommt keinen Eindruck davon, wie das Land wirklich ist. Es ist nicht so konservativ wie es in den Medien erscheint“, sagt Fernández. Man müsse sich Chile aus der Perspektive der Straße ansehen, um es zu erkennen. Für ihn ist Chile ein ursprünglich sehr offenes Land mit demokratischer Tradition, das durch den Putsch traumatisiert wurde. Die Spuren sind noch heute sichtbar. „Wir haben eine riesige Armutsschere, die sozialen Klassen sind immer noch sehr stark getrennt. Viele Menschen haben keine Stimme, andere haben zu viel davon“, sagt Fernández. The Clinic hat die Mission, denjenigen eine Stimme zu geben, die sich in der von Superreichen und Familienclans dominierten Öffentlichkeit nicht repräsentiert finden. Dass The Clinic dies nicht im Ton der Anklage tut, ist vielleicht der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Für Fernández gibt es ohnehin keine Alternative: „Egal wie hart die Realität ist, sie erfordert den Blick mit Humor. Es ist eine Frage der Grundhaltung, die alles in Frage stellen kann – sogar uns selbst.“

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Gemeinsame Standards für Medienfreiheit

In Brüssel wird der European Media Freedom Act (EMFA) bereits als "Beginn einer neuen Ära" zelebriert. Ziel der Verordnung ist es, die Unabhängigkeit und Vielfalt journalistischer Medien in der EU in vielfacher Hinsicht zu stärken. Doch wie er von den Mitgliedsstaaten  - vor allem dort, wo etwa die Pressefreiheit gefährdet ist wie Ungarn und der Slowakei - umgesetzt wird, zeigt sich erst im kommenden Sommer.
mehr »

Rundfunkreform mit vielen Fragezeichen

Bis zuletzt hatten die öffentlich-rechtlichen Anstalten auf ein Ende der Blockade einer Beitragserhöhung durch die Ministerpräsidenten der Länder gehofft. Die Verweigerungshaltung der Politik ließ ihnen am Ende keine Wahl: Am 19. November kündigten ARD und ZDF eine Klage beim Bundesverfassungsgericht an, um ihren Anspruch auf die von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) errechnete Empfehlung einer Beitragserhöhung um 58 Cent auf 18,94 Euro monatlich durchzusetzen.
mehr »

Lokaljournalismus: Die Wüste droht

Noch sei es nicht so weit, aber von einer "Steppe" könne man durchaus schon sprechen, sagt Christian Wellbrock von der Hamburg Media School. Wellbrock ist Leiter von "Wüstenradar", einer Studie, die zum ersten Mal die bundesweite Verbreitung und zahlenmäßige Entwicklung von Lokalzeitungen in den letzten 30 Jahren unter die Lupe genommen hat. Sie erhebt, wie stark der Rückgang lokaler Medien inzwischen tatsächlich ist und warnt: In etlichen Regionen droht tatsächlich die Verbreitung von "Nachrichtenwüsten".
mehr »

Eine Stimme für afghanische Mädchen

Die iranische Filmemacherin Sarvnaz Alambeigi begleitet in ihrem Dokumentarfilm „Maydegol“ über viele Jahre eine junge Muay-Thai-Boxerin aus Afghanistan, die im Iran unter schwierigen Umständen für ein selbstbestimmtes Leben kämpft. Im Interview erzählt Alambeigi, welche Rolle das Kopftuch für den Film spielt, was sie von der jungen Generation gelernt hat und warum der Film endet, bevor Maydegol endlich gelingt, was sie sich wünscht.
mehr »