EU-Gerichtshof soll entscheiden über Meinungsfreiheit im Netz

Ist es erlaubt im Internet über einen verletzten Fuß zu berichten? Schweden bittet den EU-Gerichtshof um eine Entscheidung – und schafft vielleicht einen Präzedenzfall für ganz Europa.

Eksjö in der Provinz Smaland im Juni 2000. Die Krankenschwester Bodil Lindqvist wird zur etwa 1000 DM Geldstrafe verurteilt wegen Verstoßes gegen die EU Datenschutzrichtlinie und das Schwedische Datenschutzgesetz „PUL“. Der Grund: Auf ihrer private Homepage hatte sie, als Leiterin für den Konfirmationsunterricht, die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Gemeinde vorgestellt. Eine davon war die Kirchenwärterin Mariette. „Ich schrieb, dass sie von einer Leiter hinuntergefallen war und sich dabei den Fuß verletzt hat“, erzählt Bodil Lindqvist.

Im Auge der Schwedischen Datenschutzbehörde und der Staatsanwaltschaft in Jönköping waren die Zeilen über Mariette ein besonders ernster Verstoß gegen die EU-Richtlinie. Personbezogene Daten über Krankheit oder Gesundheitsstatus dürfen nicht im Internet erscheinen. Dadurch könnten sie in Länder außerhalb der EU geraten. „In diesem Fall hätte Mariette ihre Zustimmung zur Veröffentlichung geben müssen. Es gibt keine Hinweise, dass Sie das getan hat“, schrieb der Generaldirektor der Datenschutzbehörde, Ulf Widebäck, in einem Gerichtsgutachten.

Allerdings hat seine Behörde sich nie mit Mariette in Verbindung gesetzt, um sie dazu zu befragen; ebensowenig die Staatsanwaltschaft oder die Polizei.“Dann hätte ich denen allen gesagt dass ich überhaupt nichts gegen Bodils Homepage habe“, sagt Mariette. „Im Gegenteil, ich fand die Seite ganz lustig und der Inhalt stimmt auch vom Sachverhalt her. Aber was ich davon halte, interessierte die Behörden überhaupt nicht.“

Bodil Lindqvist hat Berufung beim höheren Gericht, Göta Hovrätt in Jönköping, eingelegt. Sie findet, dass ihr „Recht auf Meinungsfreiheit“ durch das Urteil eingeschränkt wird. Das Jönköpinger Gericht will sich allerdings nicht mit dem Fall befassen, ohne erst eine Vorentscheidung vom EU-Gerichtshof eingeholt zu haben. Deshalb liegen jetzt alle Unterlagen zu diesem Fall in Luxemburg.

„Fällt die Erwähnung eines Namens auf einer Homepage unter der Datenschutzrichtlinie?“ fragt das Schwedische Gericht den Gerichtshof. Zugleich will das Gericht wissen, ob die „Information über eine Kollegin und deren geschädigten Fuß“ als sensitiv zu betrachten sei.

Inzwischen macht sich auch der EU-Ombudsmann in Strassburg ernste Gedanken über den Fall Bodil. „Die Datenschutzrichtlinie sollte nicht so ausgelegt werden, dass sie die Meinungsfreiheit der Bürger einschränkt“, sagt Jacob Söderman. „Es gibt ja z. B. viele kleine Vereine, die ihre Homepages als Mitgliederzeitschrift benützen. Warum sollten sie nicht das Recht haben, im Internet ihre Meinung zu sagen, wenn sie das gleiche auf Papier drucken dürfen?“

EU-Vorsitzland Schweden macht jedoch einen großen Unterschied zwischen den Homepages der Medien und den Homepages von Bürgern oder Organisationen. Die Meinungsfreiheit der Medien wird vom Grundgesetz geschützt, die Meinungsfreiheit der Bürger nicht. Deshalb kann das Schwedische Fernsehen monatelang einen Web-Film mit Bodils verbotener Seite zeigen. Bodil selbst droht jedoch eine Geldstrafe, weil sie ihre Seite kaum fünf Tage lang im Netz veröffentlicht hatte.

„Wir sammeln jetzt Geld für Bodil“, sagt der Publizist Nils Funcke, zugleich Kanzleichef beim Verein Investigativer Journalisten. Zusammen mit 30 Kollegen hat er eine Kampagne für Bodil gestartet mit dem Ziel, ihre Geldstrafe zu bezahlen. „In einer Demokratie hat jeder das Recht, seine Meinung im Internet zu sagen, unabhängig davon, ob er in den Medien arbeitet oder nur ânormaler‘ Bürger ist“, erklärt Nils Funcke. „Deswegen wäre es katastrophal für die Meinungsfreiheit in der EU, wenn der EU-Gerichtshof die Praxis in Schweden als richtig anerkennen würde“.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Italien plant harte Strafen für Journalisten

Italien plant eine Reform seines Verleumdungsgesetzes. Das Vorhaben wird derzeit vom Justizausschuss des italienischen Senats geprüft und sieht neben höheren Geldstrafen auch ein gefährliches Verbot journalistischer Berufsausübung vor. Verurteilte Reporter*innen könnten ein Arbeitsverbot von bis zu sechs Monaten erhalten. Auch Haftstrafen für Medienschaffende, die eigentlich nicht im Gesetz auftauchen sollten, werden in einem jüngsten Änderungsantrag wieder hinzugefügt.
mehr »

Top Tarifergebnis im Kino

In den Tarifverhandlungen mit der Kino-Kette UCI (United Cinemas International GmbH) wurde am 19. Februar 2024 ein Tarifergebnis erzielt, das an vielen Stellen die ver.di-Forderungen erreicht, so auch den Einstiegslohn von 14 Euro. In der anschließenden Befragung der Mitglieder bis zum 4. März gab es keinerlei Ablehnung. Somit beschloss auch die ver.di-Tarifkommission einstimmig die Annahme des Tarifergebnisses.
mehr »

Einschüchterungsversuche der Hohenzollern

Eine Studie der Universität Leipzig hat am Beispiel der deutschen Adelsfamilie Hohenzollern untersucht, wie kritische Berichterstattung und Forschung durch gezielte Anwaltsstrategien beeinflusst oder behindert werden sollen. Die Kommunikationswissenschaftler*innen haben dabei die Wirkung von SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation) aus Sicht der Betroffenen nachvollzogen. Verunsicherung und Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sind direkte Folgen bei ihnen.
mehr »

Honoraruntergrenzen bei der Kulturförderung

Claudia Roth will ein Versprechen einlösen und Mindeststandards für Honorare von Freien bei der Kulturförderung des Bundes sichern. Laut Ampel-Koalitionsvertrag von 2021 sollten öffentliche Gelder für die Kultur an faire Vergütung gekoppelt sein. Nun, so die Kulturstaatsministerin, werden „für den Kernbereich der Bundeskulturförderung“ Mindesthonorare für Künstler*innen und Kreative eingeführt.
mehr »