Knebelungsparagraph für die Meinungsfreiheit nicht angewandt
Zwei Jahre lang saß Seyfullah Karakurt auf der Anklagebank des Staatssicherheitsgerichts im Istanbuler Stadtteil Besiktas, direkt am Ufer des Bosporus. Sein privater Radiosender „Die Stimme Anatoliens“, bei dem er vier Jahre lang als Chefredakteur verantwortlich war, liegt nur zehn Minuten entfernt. Unzählige Male ist er den Weg zum Gericht gegangen, weil er in seinem Programm heikle Themen ansprach.
Sein Radio sei eben keine Musikbox, sagt Karakurt bescheiden aber dennoch stolz. Durch seine kritische Berichterstattung wurden er und sein Sender zum Justizfall. Zum einen verhängte die staatliche Aufsichtsbehörde für Rundfunk und Fernsehen, RTÜK, ein 150-tägiges Sendeverbot, das dem Lokalradio beinahe die Existenz gekostet hat. Zum anderen klagte ihn das Staatssicherheitsgericht gleich viermal an.
Volkshetze unterstellt
In dem Programm „Glaubensmosaik Anatoliens“ klärte Karakurt seine Hörer über die Repressalien gegen ethnische Minderheiten in der Zeit der Republikgründung auf. In den Nachrichten berichtete er über hungerstreikende Häftlinge, die gegen ihre Verlegung aus den Großraumtrakten der alten Anstalten in die kleineren Zellen der neu gebauten F-Typ-Gefängnisse protestierten. Zudem veröffentlichte er Briefe von Inhaftierten, die die Ereignisse während der Polizei-Operation „Rückkehr zum Leben“, bei der 30 Personen ums Leben kamen, aus ihrer Sicht schilderten.
Dabei stützte sich der Journalist sowohl auf Augenzeugenberichte, als auch auf staatliche Quellen, wie die Reporte der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments und der Medizinischen Kammer. Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft 32 Jahre Haft. Karakurt wurde gemäß § 312 des Strafgesetzbuches, der als Knebelungsparagraph für die Meinungsfreiheit gilt, beschuldigt, das Volk aufgehetzt zu haben. Außerdem warf man ihm gemäß § 169 vor, eine terroristische Organisation unterstützt zu haben.
Zu seiner großen Überraschung wurde Karakurt nun in zwei Verfahren am 25. Februar und am 06. März freigesprochen. Mit diesem Urteil hat er nach der zweijährigen Zitterpartie nicht mehr gerechnet, denn die Staatsanwälte blieben bis zum Schluss unerbittlich, erzählt er aufgeregt in einem Café unweit des Gerichtsgebäudes. Erleichterung und Freude stehen ihm dabei ins Gesicht geschrieben. Die Richter hätten sich auch nicht anders entscheiden dürfen, schließlich habe er nur die Wahrheit berichtet, sagt sein Rechtsanwalt Ali Riza Dizdar, ein angesehener Kommunist. Wahrscheinlich sind diese Freisprüche auf die Anpassungsgesetze im Rahmen des EU-Reformpaketes zurückzuführen. Unter anderem wurden dabei das Strafmaß für den § 312 des türkischen StGB gesenkt, und die Anwendung auf unmittelbar drohende Gefahren eingeschränkt. Doch vielleicht lag der günstige Ausgang auch an der unübersehbaren Präsenz deutscher und holländischer Konsulatsvertreter, die den Prozess aufmerksam beobachtet haben. Doch noch ist die Zitterpartie für Seyfullah Karakurt nicht endgültig ausgestanden. Das letzte Verfahren, bei dem bis zu 18 Jahren Haft gefordert werden, steht noch Anfang Mai aus. Zwar hofft er auf einen weiteren Freispruch und ist dennoch skeptisch, da sich in der Türkei die politischen Umstände von heute auf morgen ändern könnten.
Weitere Journalisten vor Gericht gestellt
Während die Prozesse für Seyfullah Karakurt anscheinend ein gutes Ende nehmen, werden andere Journalisten weiterhin vor Gericht gestellt. Im Saal des Staatssicherheitsgerichts nebenan sitzen der Geschäftsführer und der Inhaber der linken Kunst- und Literaturzeitschrift „Tavir“ (Haltung) auf der Anklagebank. Auch sie werden der Unterstützung einer terroristischen Organisation beschuldigt. Eine der sechs indizierten Schriften handelt von einem politischen Gefangenen, der beim Transport von der Isolationszelle eines F-Typ-Gefängnisses zum Gericht hofft, durch die Gitterstäbe noch einmal seine geliebte Stadt Istanbul zu erspähen. Eine andere Schrift ist ein Gedicht, das Pablo Neruda den Müttern der im Widerstand gestorbenen Söhne gewidmet hat. Von diesem Anklagepunkt hat sich die Staatsanwaltschaft allerdings inzwischen distanziert. Özgür Gider, der die Angeklagten vor Gericht verteidigt, ist über die Verfahrensweise mehr als empört. Denn nach seiner Beobachtung hätten die Richter ihre Anklageschrift schon vor Anhörung der Betroffenen verfasst. Das Urteil soll bereits in 20 Tagen gefällt werden. Zuwenig Zeit, um sich für die Verteidigung vorzubereiten, immerhin wird eine Strafe von bis zu siebeneinhalb Jahren Haft gefordert, beklagt er. Eine Chance auf einen fairen Prozess sei damit von vornherein ausgeschlossen.