In den 1960er Jahren galt (Nord-) Vietnam als Land, das der westlichen Supermacht USA in einem brutalen Krieg erfolgreich Widerstand leistete. Im heutigen Vietnam ist Pressefreiheit ein Fremdwort, werden kritische Blogger_innen massiv unterdrückt und verfolgt. „Der lange Arm von Hanoi?“ – unter dieser Fragestellung luden Reporter ohne Grenzen (ROG) und die „tageszeitung“ (taz) zu einer Diskussion mit vietnamesischen Bloggern im taz-Café in Berlin.
Politisch interessierte Deutsche verbinden mit Vietnam historisch den langjährigen Bürgerkrieg, der 1975 mit der militärischen Niederlage der USA gegen das kommunistische Nordvietnam endete. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Vietnam jedoch derzeit auf Platz 175 von 180 Staaten. Nach Darstellung von Anne Renzenbrink, Asienexpertin und Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen, nimmt das Land einen Spitzenplatz unter den Staaten ein, in denen besonders viele Journalist_innen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit hinter Gitter wandern. Trotz verfassungsmäßig garantierter Presse- und Meinungsfreiheit werden fast alle traditionellen Medien von der Kommunistischen Volkspartei (KPV) kontrolliert. Nichtstaatliche oder private Medien gibt es faktisch nicht. Daher komme der Recherchearbeit von Blogger_innen für das Herstellen einer Gegenöffentlichkeit eine umso größere Bedeutung zu. Die Repression habe sich in jüngster Zeit massiv verstärkt. Willkürliche Inhaftierungen stünden auf der Tagesordnung. Derzeit säßen 19 Blogger_innen im Gefängnis. Einige andere seien ausgebürgert worden. Die Begründungen für solche Maßnahmen fielen meist „sehr schwammig“ aus: „Da ist dann die Rede von Umsturzversuch oder Anti-Regierungspropaganda“, so Renzenbrink. Mit einem rechtsstaatlichen Prozess könnten die Betroffenen nicht rechnen. Verhandlungstermine würden verschleppt; in der Regel fänden die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen statt. Zuletzt wurde Nguyễn Ngọc Như Quỳnh, die als Bloggerin unter dem Namen Mẹ Nấm (Mutter Pilz) bekannt ist, am 29. Juni 2017 wegen „Propaganda“ gegen den Staat nach Paragraf 88 des vietnamesischen Strafgesetzbuchs zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Laut Amnesty International wird sie derzeit ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, weshalb ihre Rechtsbeistände die Berufung nicht abschließend vorbereiten können.
Aktuell sorgt auch der Fall von Trinh Xuan Thanh für Schlagzeilen. Der ehemalige KP-Funktionär und Wirtschaftsreformer wurde am 23. Juli 2017 aus Berlin nach Hanoi entführt. Hinter diesem Kidnapping stehen nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe der vietnamesische Geheimdienst und die vietnamesische Botschaft in Berlin. Zum Prozess, der am vergangenen Montag in Hanoi begann, ist die internationale Presse nicht zugelassen. Nicht einmal Xuan Thanhs deutsche Anwältin, Petra Schlagenhauf, die ebenfalls die Veranstaltung im taz-Café besuchte, darf den Prozess beobachten. Wie sie berichtete, sei sie an der Einreise gehindert worden. Begründung: Sie stelle eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar.
Bui Thanh Hieu, von Beruf Maurer, begann nach der Geburt seines Sohnes in Hanoi mit dem Bloggen – die Klinikärzte hatten seine Frau und das Baby ohne Zahlung von Schmiergeld nicht behandeln wollen. Seine Themen sind soziale Missstände in Vietnam, speziell Amtsmissbrauch, Korruption, illegale Landnahmen. Das brachte ihm seit 2009 diverse Gefängnisaufenthalte ein. Nach der letzten Haftstrafe vor vier Jahren ermöglichten ihm die Deutsche Botschaft und das thüringische Weimar die Ausreise nach Deutschland, zunächst mit einem Stipendium des PEN-Clubs „Writers in Exile“. Zurzeit genießt er hierzulande Asylrecht und besucht einen Integrationskurs.
Die Entführung seines Freundes Trinh Xuan Thanh sei Beleg für die verschärfte Verfolgungspraxis des Regimes gegen seine Kritiker_innen, urteilt Thanh Hieu. Das gelte auch für seinen eigenen Blog, der mit 162.000 Abonnent_innen eine Reichweite hat, um die ihn manche deutsche Tageszeitung beneiden dürfte. Mittlerweile verfüge der Staat über eine Armada von rund 10.000 „Cyber-Soldaten“ im Netz. Deren Aufgabe sei es, subversive Elemente aufzuspüren. Dabei gehen die staatlichen Organe nicht zimperlich vor. “Mir wurde unterstellt, über Facebook Terrorpropaganda und pornografische Inhalte zu verbreiten“, berichtet Thanh Hieu. In der Folge wurde sein Facebook-Profil 30 Tage gesperrt. Zudem versuchte man, ihn durch gefälschte Facebook-Seiten zu diskreditieren.
Der Journalist und Unternehmer Trung Khoa Le gibt seit zehn Jahren die vietnamesisch-deutsche Online-Zeitung Thoibao.de („Die Zeit“) heraus. Seine Eltern waren noch Vertragsarbeiter in der untergegangenen DDR. Die Zeitung hat aktuell bis zu 1,5 Millionen Klicks pro Tag. Lange war Khoa Le – so taz-Redakteurin und Diskussionsleiterin Marina Mai – „ein braver, linientreuer Journalist“, der gut von staatlichen Aufträgen leben konnte. Doch spätestens die von den Behörden als freiwillige Rückkehr deklarierte Entführung des Ex-Politikers Xuan Thanh habe ihm die Augen über den wahren Charakter des Regimes geöffnet. Nach kritischen Berichten über den Vorgang wurde er bedroht, in sozialen Medien als „Hund“ und „Volksverräter“ beschimpft. Anzeigen von Unternehmen wie etwa der staatlichen Airline wurden umgehend storniert, Fahndungsfotos von ihm und Angaben über seine noch grundschulpflichtigen Kinder ins Netz gestellt. Überwachung, Verfolgung und öffentliche Diffamierung seien allgegenwärtig. Offenkundig reiche der „lange Arm von Hanoi“ bis nach Berlin. Khoa Le: „Der vietnamesische Geheimdienst ist sehr aktiv in Deutschland.“
Für Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen bleibt es daher wichtig, „den Druck aufrecht zu erhalten, Fälle von verfolgten Journalist_innen zu dokumentieren und weiter für die Freilassung inhaftierter Kolleg_innen zu kämpfen“.
Im Vorfeld der Veranstaltung am 10. Januar im taz-Café in Berlin gab es offenbar Drohungen im vietnamesischsprachigen Internet. Zwei Frauen und ein Mann mit Wohnsitz in Berlin hätten dazu aufgestachelt, eine Stinkbombe auf die Veranstaltung zu werfen, außerdem sei dem Journalisten Trung Khoa Le angekündigt worden, dass er „sowieso irgendwann erschossen“ werde, so die Veranstalter_innen. Die taz und ROG haben daraufhin die Polizei eingeschaltet, vor der Veranstaltung wurden zudem Einlasskontrollen durchgeführt. Störungen während der Diskussionsrunde blieben jedoch aus.