In Stein gemeißelt?

Negatives Musterbeispiel für die Geschichte der Rechtspolitik

„In diesem Urteil werden die Pressefreiheit und die Garantie für seriösen Journalismus in Stein gemeißelt“. So schätzt der Kanzler das Urteil der 3. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24. Juni 2004 (Requête n° 59320/00) ein. Er möchte mit diesem Satz sicher nicht die Medien verhöhnen. Dennoch hat er sich so nicht irgendwo geäußert, sondern ganz offiziell am 27. September auf dem 50. Kongress des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger.

„Das Urteil trifft die Pressefunktion in ihrem Kern“ stellt dagegen Professor Grimm in einem schon am 14. Juli 2004 in der F.A.Z. veröffentlichten Interview fest. Prof. Grimm gehörte dem 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts zum Urteil vom 15. Dezember 1999 (1 BvR 653/96). Diesem Urteil hat der EGMR nun widersprochen.

Die Straßburger Entscheidung folgt nicht dem Grundgedanken des Bundesverfassungsgerichts-Urteils, nämlich der kommunikationswissenschaftlichen und rechtssoziologischen Erkenntnis: Die Wächterfunktion der Presse und aller anderen Medien muss und darf sich auf alle Personen des öffentlichen Lebens erstrecken. Sie betrifft diese Personen nicht nur soweit sie gerade dabei sind, eine offizielle Funktion auszuüben. Vielmehr umfasst sie grundsätzlich auch das sonstige Verhalten dieser Personen in der Öffentlichkeit. Zitiert werden deshalb die entscheidenden Sätze des Bundesverfassungsgerichts-Urteils. Ohne dieses Zitat aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1999 lassen sich die Straßburger Probleme nicht verstehen:

„Es kennzeichnet häufig gerade das öffentliche Interesse, welches solche Personen beanspruchen, dass es nicht nur der Funktionsausübung im engeren Sinne gilt. Vielmehr kann es sich wegen der herausgehobenen Funktion und der damit verbundenen Wirkung auch auf Informationen darüber erstrecken, wie sich diese Personen generell, also außerhalb ihrer jeweiligen Funktion, in der Öffentlichkeit bewegen. Diese hat ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, ob solche Personen, die oft als Idol oder Vorbild gelten, funktionales und persönliches Verhalten überzeugend in Übereinstimmung bringen.

Eine Begrenzung der Bildveröffentlichungen auf die Funktion einer Person von zeitgeschichtlicher Bedeutung würde demgegenüber das öffentliche Interesse, welches solche Personen berechtigterweise wecken, unzureichend berücksichtigen und zudem eine selektive Darstellung begünstigen, die dem Publikum Beurteilungsmöglichkeiten vorenthielten, die es für Personen des gesellschaftlich-politischen Lebens wegen ihrer Leitbildfunktion und ihres Einflusses benötigt. Ein schrankenloser Zugriff auf Bilder von Personen der Zeitgeschichte wird der Presse dadurch nicht eröffnet.“

Um gut beurteilen zu können, worin sich die beiden Urteile vor allem unterscheiden, braucht man diesem Zitat nur die „Schlussfolgerung“ in Nr. 76 des Straßburger Urteils gegenüberzustellen: Nur Fotos und Artikel zur offiziellen Funktion sollen grundsätzlich zulässig sein:

„Wie zuvor dargelegt, ist der Gerichtshof der Meinung, dass bei der Gewichtung des Schutzes der Privatsphäre und der Freiheit der Meinungsäußerung als bestimmender Faktor der Beitrag zu gelten hat, den die veröffentlichten Fotos und Artikel zur Debatte mit Allgemeininteresse erbringen. In der vorliegenden Sache ist aber festzustellen, dass ein solcher Beitrag fehlt, weil die Beschwerdeführerin keine offiziellen Funktionen erfüllt und die streitgegenständlichen Fotos und Artikel sich ausschließlich auf Einzelheiten aus ihrem Privatleben beziehen.“

Für Personen wie Prinzessin Caroline von Hannover nimmt das Straßburger Urteil also an, dass sie – anders als „Politiker beispielsweise in Ausübung ihrer Ämter“ (Nr. 63 des Urteils) – grundsätzlich keine offiziellen Funktionen ausüben, und dass deshalb über sie ohne ihre Einwilligung weder in Bild noch in Wort berichtet werden darf.

Wenn in Beiträgen zum Urteil vom 24. Juni 2004 immer wieder kritisiert wird, das Urteil führe zu einer Hofberichterstattung und zu einem Kommunikee-Journalismus, dann ist dieses Verbot einer Realitätsvermittlung gemeint. Soweit die Prominenten nicht einwilligen, darf nicht berichtet werden, und dadurch können die Prominenten die Medien steuern. Prof. Grimm hat in dem bereits erwähnten Interview dementsprechend kritisiert:

„Über die Sängerin darf dann ohne Einwilligung fotografisch nur berichtet werden, wenn sie singt, über den Fernsehmoderator, wenn er moderiert, über den Fußballstar nur, wenn er kickt, nicht zum Beispiel, wenn er nachts in der Disco Gäste anpöbelt.“

Lässt es sich vertreten, dass das Bundeskabinett die Entscheidung nicht dem Straßburger Gericht zur Überprüfung durch die Große Kammer vorgelegt hat? Wer eine Zeitschrift oder eine Zeitung zur Hand nimmt und überprüft, was nun nach dem Straßburger Urteil noch rechtmäßig ist und was rechtswidrig sein soll, stellt schnell eine Unsicherheit nach der anderen fest. Die Reihe von Fragen zum Inhalt des Urteils reicht sehr weit über das übliche Maß an Unsicherheiten hinaus. Allein schon deshalb hätte die Bundesregierung beantragen müssen, dass die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Urteil überprüft.

Die Bundesjustizministerin beschwichtigte gleich noch am 2. September, dem „Schwarzen Mittwoch“ (Hanfeld in F.A.Z.), als sie die negative Entscheidung des Kabinetts bekannt gab. Sie argumentierte, das Bundesverfassungsgericht und die anderen deutschen Gerichte seien doch an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gar nicht gebunden. Aber: Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda und andere wenden mit Recht ein, juristisch sei das zwar richtig, „aber jeder Amtsrichter, der über einen solchen Fall zu entscheiden hat, wird das Urteil kennen und sehen, ob es ihm hilft“ (ddp).

Um die Ausgangsfrage zu beantworten: In diesem Urteil werden die Pressefreiheit und die Garantie für seriösen Journalismus ganz bestimmt nicht in Stein gemeißelt. Es lässt sich für die Bundesregierung nicht einmal ein überzeugendes Argument für die Entscheidung vom „Schwarzen Mittwoch“ finden. Die Entscheidung des Bundeskabinetts, das Urteil nicht einmal von der Großen Kammer überprüfen und klarstellen zu lassen, kann als negatives Musterbeispiel in die Geschichte der Rechtspolitik eingehen.

Worüber übrigens noch niemand geschrieben oder auch nur gesprochen hat: Wie wirkt sich das Straßburger Urteil auf Arbeitsplätze aus?

Prof. Dr. Robert Schweizer
Professor für Rechtssoziologie und Mitglied des Deutschen Presserats

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