Der türkische Journalist Can Dündar ist am 23. Dezember zu einer mehr als 27jährigen Haftstrafe verurteilt worden. Wegen Terrorunterstützung und Spionage, heißt es in dem Urteil der 14. Istanbuler Strafkammer. ver.di zeigte sich „schockiert und fassungslos“ angesichts des Urteils. Es habe „nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern ist die politische Entscheidung eines Willkürregimes“, sagte Christoph Schmitz, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes.
Hintergrund des Verfahrens ist ein Artikel der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ aus dem Jahr 2015, in dem über Indizien berichtet wurde, die eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen für Rebellen in Syrien nahelegten. Die Staatsanwaltschaft eröffnete daraufhin ein Verfahren gegen den damaligen Chefredakteur Dündar wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete den Journalisten wiederholt als „Vaterlandsverräter“ und forderte öffentlich eine hohe Strafe für ihn. Im Mai 2016 wurde der Journalist daraufhin zu knapp sechs Jahren Haft verurteilt. Er ging dagegen in Revision und konnte ins Ausland fliehen. Heute lebt der 59-Jährige im Exil in Berlin. Vor zwei Jahren dann wurde der Prozess gegen ihn neu aufgerollt, die Vorwürfe der Spionage und Terrorunterstützung kamen hinzu.
„Mit der Kriminalisierung von kritischem Journalismus will der türkische Staat Pressefreiheit und Menschenrechte systematisch unterdrücken“, erklärte Christoph Schmitz von ver.di. Das aktuelle Urteil habe massive Auswirkungen auf die persönliche Sicherheit Can Dündars und belege, dass der in den letzten Wochen eingeschlagene Annäherungskurs des türkischen Präsidenten Erdogan an die Europäische Union offenbar keinen echten Kurswechsel zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeute. „Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihre Konsequenzen daraus zieht. Es darf keine Zugeständnisse an einen Staat geben, der die Grundrechte mit Füßen tritt“, forderte Schmitz und erklärte sich solidarisch mit Can Dündar und allen weiteren Journalistinnen und Journalisten, die in der Türkei zu Unrecht unter Anklage stehen oder ins Exil flüchten mussten.
„Dieser Prozess gegen Can Dündar ist wie viele andere Verfahren gegen Medienschaffende in der Türkei eine Farce“, sagt Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen, der regelmäßig in die Türkei reist, um Prozesse gegen Journalisten zu beobachten, sieht „in diesem Prozess gegen Can Dündar ebenso wie in den vielen anderen Verfahren gegen Medienschaffende in der Türkei eine Farce.“
Die Anwälte von Dündar boykottierten die Verhandlung, in der das Urteil verkündet wurde: „Da das Richtergremium nicht einmal den Anschein erweckt, unparteiisch und unabhängig zu sein, möchten wir vor dem 14. Schwurgericht keine Verteidigung mehr abgeben und Teil einer Praxis sein, mit dem ein schon vorher getroffenes, politisches Urteil juristische Legitimität gewinnt“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Dündar selbst sagte vorab: „Der Richter wird das Urteil lesen, das Erdogan ihm in die Hand gedrückt hat.“
Amnesty International hatte Ende November bereits auf die erneuten im Dezember anstehenden Gerichttermine gegen „starke Stimmen der türkischen Zivilgesellschaft“ vor dem türkischen Gericht hingewiesen. „Dieses Jahr zeigte sich die Politisierung der Justiz in der Türkei in aller Deutlichkeit. Die Türkei hat die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert und tritt sie gleichzeitig mit Füßen. Jedes diplomatische Gespräch zwischen der Bundesregierung und der Türkei muss die Einhaltung der Menschenrechte und die Unabhängigkeit der Justiz zum Thema machen“, sagte Amke Dietert, Türkei-Expertin bei Amnesty International in Deutschland dazu.
Beim Auftakt des zweiten Prozesses gegen Osman Kavala am 17. Dezember hat das Gericht in Istanbul die Untersuchungshaft für den bekannten Kulturförderer verlängert. Amnesty International kritisiert die Entscheidung und fordert seine umgehende Entlassung. Seit über drei Jahren ist Osman Kavala willkürlich inhaftiert. Nach einem bindenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das im Mai 2020 rechtkräftig wurde, hätte er längst auf freiem Fuß sein müssen. Das Verfahren wird am 5. Februar 2021 fortgesetzt. Diese Entscheidung des Gerichts werfe einen Schatten voraus auf das anstehende Urteil im Hauptverfahren gegen die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin am 24. Dezember 2020, heißt es bei Amnesty International. Am morgigen Weihnachtstag wird zudem die Entscheidung im Hauptverfahren gegen die Zeitung „Özgür Gündem“ erwartet.
Mehr Informationen zur Pressefreiheit weltweit in der Jahresbilanz von Reporter ohne Grenze:
https://www.reporter-ohne-grenzen.de/jahresbilanz/2020/1