Massenentlassungen im Rundfunk

Ungarisches Mediengesetz erhöht Druck auf kritischen Journalismus

Nach dem Ende der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft wächst in Budapest wieder der Druck auf unabhängige Medien und kritische Journalisten. Über 500 Redakteure der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender wurden seit Anfang Juli entlassen, bis zum Herbst soll ihre Zahl auf 1.000 wachsen.

Antónia Mészáros, 34, war bis vor Kurzem eine der beliebtesten Moderatorinnen des Nachrichtenmagazins „Az Este“ („Der Abend“), das jeden Tag um 21 Uhr im ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal MTV läuft. Mit ihrer sechsjährigen Erfahrung bei der BBC brachte die Journalistin die wichtigsten politischen Ereignisse auf den Punkt und stellte ihren prominenten Gästen unbequeme Fragen. Doch Anfang Juli erhielt Antónia Mészáros einen blauen Brief mit ihrer Kündigung, wie es hieß, „aus betrieblichen Gründen“. Die Moderatorin reagierte erstaunlich gelassen. „Angesichts der unerträglichen Stimmung und der dramatischen Einschnitte bei den öffentlich-rechtlichen Medien sehe ich meine Kündigung als gar nicht so schlimm an“, sagte sie.

Die Massenentlassungen, die bis zum Herbst rund 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreffen sollen, sind die jüngste Folge einer Entwicklung, die viele Ungarn als Gefährdung der Pressefreiheit ansehen. Die rechtskonservative Partei Fidesz, die zusammen mit ihren christdemokratischen Juniorpartnern über zwei Drittel der Sitze im Parlament verfügt, hatte 2010 ein restriktives und umstrittenes Mediengesetz verabschiedet, das monatelang sowohl intern als auch international für Schlagzeilen sorgte. Seit Anfang des Jahres kontrolliert ein neuer Medienrat öffentlich-rechtliche und private Radio- und Fernsehsender, Zeitungen, Zeitschriften und Nachrichten-Internetportale. Nachdem mehrere EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission verschiedene Paragraphen kritisiert hatten, wurden einige Bestimmungen gelockert. Doch der Gesetzestext bleibt an vielen Stellen vage und räumt der neuen Aufsichtsbehörde weite Befugnisse ein. Außerdem wurde der Medienrat ausschließlich mit fidesznahem Personal besetzt – für eine Amtszeit von neun Jahren. Mit dem Ende der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft traten am 1. Juli nun auch die letzen Paragraphen des Mediengesetzes in Kraft. Die Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, des Fernsehsender MTV und Duna TV, sowie der ungarischen Nachrichtenagentur MTI wurden zusammengelegt. Rund ein Drittel der 3.000 Mitarbeiter wird nach der Umstrukturierung damit überflüssig sein.
Die Reform sei „längst überfällig“ gewesen, sie sorge endlich für mehr Effizienz und sei mit den Sparzielen der Regierung kohärent, versichern die Vertreter des Medienrats. Doch als die ersten 550 blauen Briefe ihre Empfänger erreichten, kritisierten Nichtregierungsorganisationen den Schritt als politisch motiviert. „Die Kündigungen setzen unabhängige und kritische Journalisten unter noch mehr Druck als Anfang des Jahres mit Inkrafttreten des Gesetzes“, sagt Éva Simon vom Ungarischen Bündnis für Bürgerfreiheiten (TASZ).

Mehrmals hat die Gewerkschaft der öffentlich-rechtlichen Medien gegen die Massenentlassungen protestiert. Hunderte Mitarbeiter zogen an dem Hauptsitz des Rundfunks Magyar Rádio mit einem Sarg für die Pressefreiheit vorbei. Doch die Proteste zeigten bisher wenig Wirkung. „Rein juristisch lässt sich nur schwer beweisen, dass es politische Hintergründe für die Kündigungen gab“, erklärt der Radiomoderator Attila Mong. Mong wurde seine Sendung weggenommen, nachdem er Ende 2010 gegen das Mediengesetz mit einer Schweigeminute protestiert hatte. „Die neuen Chefs haben seit Jahresanfang viele kritische Journalisten weggemobbt, jetzt erleben wir aber eine neue, aggressivere Phase“, sagte Mong, der mittlerweile bei einem privaten Nachrichten-Internetportal arbeitet.
Nur die wenigsten entlassenen Mitarbeiter trauen sich, offen zu sprechen. Denn einerseits wurden im Laufe der Umstrukturierung neue Verträge eingeführt, die eine drakonische Vertraulichkeitsklausel enthalten. Kommentare über den früheren Arbeitgeber werden mit der sofortigen Aussetzung der Abfindungszahlungen bestraft. Andererseits riskieren die Betroffenen, in die Langzeitarbeitslosigkeit zu geraten. Denn auch viele private Medienunternehmen stehen unter der Aufsicht des Medienrats und befürchten ebenfalls politische Repressalien.
Die linksliberale Tageszeitung Népszabadság ist eine der wenigen Publikationen, die kritisch geblieben ist. Sie veröffentlichte eine lange Liste mit Aussagen von entlassenen Journalisten, ohne jedoch deren Namen zu nennen. „In den Monaten vor den Kündigungen waren alle hier wie besetzt von Paranoia“, heißt es in einem dieser Kommentare. „Die meisten trauten sich nur, auf den Fluren zu flüstern. Oft wurde von oben gefragt, warum der oder der Gast mit vermeintlich liberalen Ansichten überhaupt eingeladen wurde. Aber ich habe auch die Kritik gehört, dass in unseren Sendungen zu viele Juden zu Wort kommen“, sagt ein Redakteur.
Die Sprecherin der neuen Anstalt für öffentlich-rechtliche Medien, Agnes Cserhati, weist jegliche Kritik zurück und beteuert, dass alle ungarischen Parteien die Restrukturierung der aufgeblasenen Redaktionen und Verwaltungsstrukturen befürworten. Tatsächlich steht das Thema effizienter und weniger politisch abhängiger öffentlich-rechtlicher Medien seit Jahren auf der Agenda. Doch die Reform ließ auf sich warten: Die Nachrichtenprogramme von MTV, Duna TV und Magyar Rádio waren im vergangenen Jahr nach Meinung von Medienexperten und Zivilgesellschaftsorganisationen wie dem Bündnis TASZ alles andere als ausgeglichen und kritisch.

EFJ-Kampagne gegen das ungarische Mediengesetz

Die European Federation of Journalists (EFJ) startete Anfang des Jahres eine europaweite Kampagne gegen das ungarische Mediengesetz mit der Forderung nach sofortiger Änderung („Change the law now“).
Zugleich wurden die EU-Institutionen dazu aufgefordert, die Bestimmungen der Europäischen Grundrechte-Charta überall in der Gemeinschaft einzufordern und umzusetzen.

ver.di fordert Abschaffung des Gesetzes

ver.di wandte sich am 12. August an den ungarischen Botschafter in Deutschland, Dr. Jósef Czukor, wegen „antisemitischer Meinungsäußerungen in ungarischen Medien“.
In dem Brief kritisieren der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske und ver.di-Vize Frank Werneke, im Bundesvorstand für Medien zuständig, dass die der Regierungspartei Fidesz nahestehende Zeitung Magyar Hirlap unkommentiert Lesermeinungen veröffentlicht habe, „die eindeutig gegen die Menschenwürde“ verstießen. Damit habe das EU-weit kritisierte Mediengesetz Ungarns „einmal mehr seine demokratische Daseinsberechtigung verloren“.

Es erweise sich nun, dass das umstrittene Gesetz sowie der kontrollierende Medienrat zwar die Pressefreiheit einschränkten und regierungskritischen Journalismus sanktionierten, gleichzeitig aber antisemitische und rassistische Propaganda tolerierten.
„Wir erwarten von der ungarischen Regierung, dass sie den geschilderten antisemitischen Äußerungen energisch entgegentritt und darüber hinaus das mit den Grundsätzen einer freien Presse in der EU unvereinbare ungarische Mediengesetz ersatzlos abschafft“, heißt es im ver.di-Brief.

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