Marcela Turati (Jahrgang 1974) ist eine mexikanische Journalistin, hat bis 2010 für die Zeitung „La Reforma“ gearbeitet, seitdem freiberuflich für Magazine wie „Proceso“. Parallel dazu arbeitet sie für die Organisation „Periodistas de a Pie“, die sich für die Menschenrechte von Journalisten engagiert, hält Vorträge und hilft Kolleg_innen sich besser zu schützen. Sie stammt aus Chihuahua im Norden Mexikos.
Sie schreiben regelmäßig über die Situation an der Südgrenze Mexikos und verfolgen auch das Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa. Welche Bedeutung hat die Berichterstattung über diese beiden Themen in Mexiko? Das eine wird international wahrgenommen, das andere so gut wie gar nicht.
Die Situation an der Südgrenze Mexikos ist fürchterlich und es gibt nur wenig Berichterstattung über den Umgang mit den Migranten aus Honduras, El Salvador oder Guatemala. Das ist ein Defizit, denn die Gewalt gegenüber den Migranten hat zugenommen es wird ihnen immer öfter verwehrt, auf die Züge, die sie weiter nach Norden bringen, aufzusteigen. Dafür sind die Militärs und Polizisten verantwortlich, die in den Süden verlegt wurden. Nun verläuft die Südgrenze der USA nicht mehr in Tamaulipas und Chihuahua, sondern in Chiapas. Die Migranten werden verfolgt – von den Behörden, manchmal aber auch von den Farmern, die mit der Machete in der Faust Migranten, die zu Fuß unterwegs sind, verfolgen.
Warum berichten sie über diese Menschen, die am schwächsten sind: Frauen, Kinder, Homo- und Transsexuelle auf der Flucht in ein besseres Leben?
Das war ein ganz normaler Prozess. Ich habe mich schon früh für die soziale Situation und auch Gesellschaftspolitik interessiert und meine Themen in der Redaktion waren Armut und deren Ursachen sowie soziale Bewegungen. Als dann 2006 der Krieg gegen die Drogenmafia ausgerufen wurde, habe ich beobachtet, welche Folgen die Militarisierung in Ciudad Juárez und im Bundesstaat Chihuahua hatte.
Es war eine spontane Entscheidung, mit den Opfern dieses Krieges zu sprechen, zu berichten, zu informieren. Das ist seit 2008 mein zentrales Thema und ich spreche mit den Waisen, den Witwen, den Opfern, die oftmals keine Stimme haben. Es ist eine Realität, dass wir nie über die Angehörigen der Ermordeten, die Frauen, die Kinder berichten – deren Geschichte versuche ich zu erzählen. Das war der Ausgangspunkt und von dort bin ich dann auf die Situation der Migranten gestoßen, habe über deren Ermordung, deren Versklavung als Erntehelfer oder Drogenkuriere geschrieben und manchmal fühle auch ich mich wie eine Kriegsreporterin im eigenen Land.
Journalisten in Mexiko leben ausgesprochen gefährlich, gerade wenn sie sich mit dem Drogenkrieg beschäftigen. 114 Kolleg_innen wurden seit dem Jahr 2000 ermordet, sieben davon im laufenden Jahr. Sie haben „Periodistas de a Pie“, eine Organisation mitgegründet, die Kolleg_innen hilft, Schulungen anbietet und ein Netzwerk aufgebaut hat.
In der Organisation haben sich Kolleg_innen zusammengeschlossen, die über die soziale Seite des Konflikts in Mexiko berichten, sich gegenseitig helfen und weiterqualifizieren wollen. Wir haben damit begonnen, die Opfer sichtbar zu machen, uns um Aspekte des Konflikts gekümmert, die weitgehend unbekannt waren und nicht in den Medien auftauchten. Wir haben begonnen, die Frage nach den Kosten dieses Krieges in die Redaktionen zu tragen. Parallel dazu haben wir Seminare organisiert, um uns und die Kolleg_innen besser auszubilden, um zu lernen, vorsichtiger aufzutreten und uns selbst, aber auch unsere Informanten zu schützen.
Das Risiko ist besonders groß abseits der großen Städte. Haben Sie Kontakte aufgebaut in die Regionen?
Ja, natürlich, aber viele Kolleg_innen kennen sich auch, weil sie sich bei Recherchen begegnen. Wir haben diese Kontakte ausgebaut, zum Beispiel für Kolleg_innen im US-Exil eine Weihnachtskollekte gemacht und dabei erst realisiert, wie viele es gibt. Auch die Familien von ermordeten Kollegen wie Gregorio Jiménez (ein 2014 ermordeter Journalist aus dem Bundesstaat Veracruz) und Rubén Espinosa (Fotograf aus Mexiko Stadt) haben wir unterstützt. Wir haben Demonstrationen organisiert, Online-Appelle und Proteste initiiert und die Vernetzung von Journalist_innen vorangetrieben – in riskanten Bundesstaaten wie Chihuhua, Tamaulipas genauso wie in Veracruz.
Wie kommen Sie persönlich mit dem Druck, mit dem Leid der Opfer und dem nachlassenden Interesse der Medien klar?
Das ist nicht einfach. Auf der einen Seite ist es meine Aufgabe, nach Wegen zu suchen, die Leser zu erreichen mit diesen Geschichten über Verschwundene, Opfer und die Strukturen dahinter. Es ist schwierig, die gleiche Geschichte neu zu erzählen.
Auf der anderen Seite lassen mich diese Geschichten nicht kalt und ein Rat wie „mach doch etwas anderes“ von einigen Kolleg_innen hilft da nicht. Aber es gibt andere, die ähnliche Erfahrungen machen und daraus hat sich ein Netzwerk entwickelt, wo wir uns austauschen, uns gegenseitig helfen. Für mich ist wichtig, was ich mache. Ich will meine Arbeit fortsetzen, aber ich muss auch mit den Bedingungen klarkommen, die nicht einfacher werden. Dazu gehört auch der posttraumatische Stress, der nach besonders intensiven Recherchen mit Horrorbildern auch auftaucht.
Stimmt es, dass die Regierung versucht, die Berichterstattung zu beeinflussen?
Ja, es ist ein Abkommen zwischen den offiziellen Stellen und den großen Medien wie Televisa und TV Azteca unterzeichnet worden. Man hat sich auf eine weniger reißerische Art der Berichterstattung verständigt, ethische Regeln sollen befolgt werden. Doch im Kern geht es darum, die Folgen des Drogenkrieges und der Gewalt in Mexiko weniger sichtbar zu machen. Ich arbeite für das Magazin „Proceso“ und das hat sich diesem 2011 unterzeichneten Abkommen nicht angeschlossen. Unter Felipe Calderón wurde offen über den Krieg gesprochen, unter Enrique Peña Nieto geht es hingegen darum, den Krieg unsichtbar zu machen.