Netzfreiheit: Russland zieht die Schrauben an

Spätestens seit den Massenprotesten gegen Wahlfälschungen 2011/12 wird in Russland auch die Kommunikationsfreiheit im Internet immer mehr eingeschränkt. Viele Blogger_innen und Nutzer_innen sozialer Netzwerke wurden seitdem verfolgt und verurteilt – manche nur, weil sie einen kritischen Kommentar geteilt haben. Auf Einladung von Reporter ohne Grenzen diskutierten russische Netzaktivist_innen über Internetzensur in Russland vor den Präsidentschaftswahlen am 18. März.

Das russische Mediengesetz von 1991 galt nach dem Zerfall der Sowjetunion als eines der fortschrittlichsten in Europa. Es garantiert die Existenz privater Massenmedien und verbietet jede Zensur. Bis vor etwa zehn Jahren galt auch das Internet in Russland als relativ frei. Aber seit den vor allem über digitale Plattformen organisierten Protesten und Demonstrationen zieht der Kreml auch im Netz die Schrauben an. „Dem gefürchteten KGB standen in der Sowjetunion seinerzeit nur begrenzte technische Möglichkeiten zur Verfügung“, sagt Irina Borogan, Geheimdienstexpertin und Investigativjournalistin. Inzwischen bauen die Geheimdienste zielstrebig ein landesweites Überwachungssystem namens SORM aus. „Damit können die Behörden in großem Stil Telefon- und Internetdaten abfangen.“

Borogan ist Mitautorin von „The Red Web“, einem 2015 publizierten Buch über den „Kampf zwischen Russlands Digitaldiktatoren und den neuen Online-Revolutionären“. Bis in die jüngste Zeit habe der Kreml die Wirkung des Netzes unterschätzt. „Putin glaubt immer noch, das Internet sei eine Erfindung der CIA“. Lange habe der Kreml auch die Anwesenheit regulärer russischer Streitkräfte in der Ostukraine geleugnet. Aber die vielen Postings von Soldaten in den sozialen Netzwerken hätten ihn längst Lügen gestraft.

SORM ist nicht die einzige Waffe im Repressionsarsenal der Regierung. Seit 2016 gilt in Russland eine rigorose Vorratsdatenspeicherung: Demnach müssen Verbindungsdaten drei Jahre lang gespeichert werden, konkrete Inhalte wie Telefonate, Nachrichten und Videos sechs Monate lang. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor sperrt Internetseiten ohne Gerichtsbeschluss. Längst existiert eine schwarze Liste von Webseiten, die von Providern blockiert werden müssen, in der Regel unter schwammigen Vorwänden wie etwa „Schutz der Jugend“ vor Pornografie und Extremismus. Tatsächlich landen aber immer mehr Seiten von Oppositionellen in diesem so genannten „Register“. Roskomnadsor sperrt alljährlich zehntausende Artikel und Webseiten.

„Leider gibt es bei uns nicht allzu viele Verteidiger der Internetrechte“, klagt Artem Kosljuk, Leiter und Mitgründer der NGO Roskomsvoboda, die seit 2012 gegen Internetzensur kämpft. Sie unterstützt Menschen, deren Online-Inhalte blockiert wurden und sammelt Informationen über gesperrte Seiten. Anwälte der Menschenrechtsgruppe Agora leisten Rechtshilfe für verfolgte Blogger_innen und dokumentieren die Urteile gegen kritische Internetnutzer_innen.

Das harte Vorgehen von Staat und Behörden sei Teil des „Kampfs der neuen Eliten um Macht und Geld“, urteilt Roman A. Sacharow, Journalist aus St. Petersburg und Aktivist der „Stiftung zum Schutz von Glasnost“. Vor russischen Richtern haben Betroffene meist schlechte Karten. Umso mehr Aufsehen erregte es, als Sacharow 2015 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Prozess  gegen den russischen Staat gewann. Er hatte gegen die anlasslose Massenüberwachung mithilfe des SORM-Systems geklagt, da dieses sein Recht auf Privatsphäre verletze. Sein mutiges Vorgehen bezahlte er mit mehreren Hausdurchsuchungen und kurzzeitigen Festnahmen. Inzwischen lebt er im Exil, wo er als Chefredakteur des Nachrichtenportals  www.legalpress.ru arbeitet.

Ist unter solchen repressiven Bedingungen überhaupt noch kritischer, investigativer Journalismus möglich? Durchaus, findet Irina Borogan. In jüngster Zeit habe es eine Reihe guter Reportagen von Digitalreporter_innen gegeben, etwa über die Folter von Homosexuellen in Tschetschenien, über die Willkürpraxis in russischen Gefängnissen, auch über die allgegenwärtige Korruption. „Sobald man aber seine Texte verschlüsselt, um die Quellen von brisanten Informationen zu schützen, wird man schnell zur Zielscheibe von Behörden.“ Denen war ein Messengerdienst wie Telegram, der dank seiner starken Verschlüsselung als besonders sicher gilt, logischerweise ein Dorn im Auge. 2017 drohte die staatliche Medienbehörde Roskomnadsor, Telegram in Russland zu sperren, sollte sich der Dienst nicht amtlich registrieren lassen. Inzwischen steht Telegram im „Register“, sein Gründer Pawel Durow lebt im Exil.

Ein Gesetz vom Sommer 2017 schränkt jetzt auch die Nutzung von VPNs und Anonymisierungsdiensten, mit denen man Internetzensur umgehen kann, stark ein. Aber noch gebe es Freiräume im Netz, konstatiert Menschenrechtler Sacharow. Anders als in China werde das Internet nicht nach Stichworten gefiltert und zensiert. Videos von Oppositionellen wie Alexej Nawalny erreichten auf Youtube nach wie vor hohe Aufmerksamkeit.

„Die internationale Solidarität zugunsten verfolgter Blogger ist immer wichtig“, resümiert Irina Borogan. Konkrete Hilfestellung gegen die Repression im Netz sei allerdings eher schwierig: „Vor den Wahlen wird die Regierung alles unterdrücken, was sie nur kann.“

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