Polizeigewalt in Kolumbien

"Politische Brutalität nie wieder". Straßengraffiti auf der Shop-Jalousie Foto: Knut Henkel

Demonstranten und Pressevertreter gezielt beschossen

Kolumbiens Polizeieinheiten zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD) werden für Dutzende von Toten und Schwerverletzten seit dem Beginn der sozialen Proteste im Frühjahr verantwortlich gemacht. Dabei wurden auch Journalisten gezielt bei ihrer Arbeit angegriffen, kritisiert die Stiftung für Pressefreiheit (FLIP). Videos, Fotos und Zeugenaussagen aus Städten wie Sibaté, Cali und Popayán belegen das. Doch die Regierung in Bogotá geht auch verbal gegen kritische Berichte vor allem in den sozialen Medien vor: von Cyber-Terrorismus ist die Rede. Für Jonathan Bock, FLIP-Direktor, ein Angriff auf die freie Meinungsäußerung.

Hollman Morris befragt gerade einen Demonstranten als Schüsse den Klangteppich aus Musik, Lachen und den vielen Stimmen sich unterhaltender Menschen zerreißen. Die Menschen an der Loma de la Dignidad in Cali, dem Epizentrum der sozialen Proteste, die Kolumbien seit Ende April in Atem halten, reagieren irritiert. Als den Schüssen aber nichts folgt, setzen die Gespräche wieder ein. Für Morris, ein erfahrener Bürgerkriegs-Reporter, nicht ganz nachvollziehbar, denn Gewalt gegen die Demonstranten, Angriffe auf die Barrikaden, die mehrere Straßen in der drittgrößten Stadt Calis unpassierbar machen, hat es in den letzten Wochen immer wieder gegeben. Oft sind es die berüchtigten Polizeieinheiten ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios), die 1999 zur Aufstandsbekämpfung gegründet wurden und derzeit staatliche Repression vollziehen.

Die Nichtregierungsorganisation Temblores meldete an die Europäische Union für den Zeitraum 28. April bis 31. Mai insgesamt 3.789 Fälle von Polizeigewalt, wobei 45 Menschen getötet wurden und es 65 Augenverletzungen gab. 25 Mal kam es zu sexueller Gewalt. Es erfolgten 1.445 willkürliche Festnahmen. Diese Zahlen, die derzeit in Kolumbien landesweit kursieren, gelten als glaubwürdig. Das brutale Vorgehen der Elite-Einheiten ist längst nicht mehr nur in Kolumbien ein Thema, sondern auch auf internationaler Ebene. UN-Organisationen, die Europäische Union, Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International, aber auch Organisationen für die Pressefreiheit wie Reporter ohne Grenzen haben sich mit kritischen Nachfragen an die Regierung in Bogotá gewandt. Zu Recht, so Jonathan Bock, Direktor der kolumbianischen Stiftung für Pressefreiheit.

Jonathan Bock, FLIP-Direktor Foto: FLIP

„Uns liegen zahlreiche Videos vor, die zeigen wie Sondereinsatzkräfte des ESMAD gezielt mit Gaskartuschen, Gummigeschossen und anderer Spezialmunition auf Menschen schießen, die sich eindeutig als Pressevertreter gekennzeichnet haben und filmen. Hinzu kommen die verbalen Angriffe auf Medienvertreter durch Mandatsträger wie den Bürgermeister von Cali, der mehreren Redaktionen den Zugang zu Pressekonferenzen verwehrt hat“, kritisiert Bock. Als alarmierend bezeichnet er die Tatsache, dass die kolumbianischen Behörden, allen voran die Regierung, angesichts des Ausmaßes der Angriffe auf die Pressefreiheit beharrlich schweigen. „Es gibt keine Entschuldigung, kein Bekenntnis zur Pressefreiheit, sondern Angriffe auf die Berichterstattung in den sozialen Medien“, kritisiert Bock.

Von Seiten der Regierung macht der Begriff des „Cyber-Terrorismus“ die Runde, wenn in den sozialen Medien über die Übergriffe der Polizei, aber auch der Militäreinheiten kritisch berichtet wird. Als Image-, nicht als strukturelles Problem wird die Kritik am brutalen Vorgehen der Ordnungskräfte wahrgenommen. Es geht eher darum, die Kritik zu unterdrücken, als sie ernst zu nehmen und Ermittlungen einzuleiten. Erst in den letzten Tagen gab es die ersten Berichte über Untersuchungen gegen Polizisten.

Aus Städten wie Cali oder dem weiter südlich liegenden Popayán wird immer wieder die Störung des Internet-Zugangs gemeldet. „Wir haben keine Belege dafür, dass die Regierung dafür verantwortlich ist. Es kann Schäden an der Infrastruktur, aber auch eine Überlastung der Netze gegeben haben – genaueres wissen wir nicht“, sagt Bock. Doch zugleich weist er auf die Aussagen von Regierungsverantwortlichen hin, den Informationsfluss in den sozialen Medien kontrollieren zu wollen. „Das ist ein verheerendes, antidemokratisches Signal. Die staatliche Sicht der Dinge wird über die der Journalisten gestellt“. Dazu passen die aktuellen Debatten hierzulande, ob staatliche Anzeigen nur noch an Medien, die der Regierung nahestehen, vergeben werden sollen.

Mediale Kontrolle scheint die Devise der Regierung des Präsidenten Iván Duqe zu sein, dessen politischer Mentor, Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, kritische Journalisten wie Hollman Morris durch den Geheimdienst ausspionieren ließ. Morris, der weiterhin berichtet, aber auch politisch aktiv ist, warnte jüngst vor weiterer Gewalt gegen diejenigen, die er in Cali interviewte. Viele hätten Morddrohungen von der lokalen Polizei erhalten, schrieb Morris am 20. Mai in den frühen Morgenstunden auf Twitter. Ob die Drohungen im Kontext der Ankündigung des Präsidenten stehen, die Blockaden in Cali und anderswo vom Militär räumen zu lassen, ist unklar.

Für Jonathan Bock wird so an der Gewaltspirale gedreht: „Die Regierung akzeptiert de facto das Demonstrationsrecht nicht, zudem werden immer wieder Journalisten, aber auch Bürgern und Bürger*innen gehindert, zu filmen. Das ist eine Verletzung bestehenden Rechts und der Einsatz des Militärs verschärft die Situation weiter.“

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Gemeinsame Standards für Medienfreiheit

In Brüssel wird der European Media Freedom Act (EMFA) bereits als "Beginn einer neuen Ära" zelebriert. Ziel der Verordnung ist es, die Unabhängigkeit und Vielfalt journalistischer Medien in der EU in vielfacher Hinsicht zu stärken. Doch wie er von den Mitgliedsstaaten  - vor allem dort, wo etwa die Pressefreiheit gefährdet ist wie Ungarn und der Slowakei - umgesetzt wird, zeigt sich erst im kommenden Sommer.
mehr »

Rundfunkreform mit vielen Fragezeichen

Bis zuletzt hatten die öffentlich-rechtlichen Anstalten auf ein Ende der Blockade einer Beitragserhöhung durch die Ministerpräsidenten der Länder gehofft. Die Verweigerungshaltung der Politik ließ ihnen am Ende keine Wahl: Am 19. November kündigten ARD und ZDF eine Klage beim Bundesverfassungsgericht an, um ihren Anspruch auf die von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) errechnete Empfehlung einer Beitragserhöhung um 58 Cent auf 18,94 Euro monatlich durchzusetzen.
mehr »

Eine Stimme für afghanische Mädchen

Die iranische Filmemacherin Sarvnaz Alambeigi begleitet in ihrem Dokumentarfilm „Maydegol“ über viele Jahre eine junge Muay-Thai-Boxerin aus Afghanistan, die im Iran unter schwierigen Umständen für ein selbstbestimmtes Leben kämpft. Im Interview erzählt Alambeigi, welche Rolle das Kopftuch für den Film spielt, was sie von der jungen Generation gelernt hat und warum der Film endet, bevor Maydegol endlich gelingt, was sie sich wünscht.
mehr »

Klimaprotest erreicht Abendprogramm

Am 20. August 2018, setzte sich die damals 15jährige Greta Thunberg mit dem Schild “Skolstrejk för Klimatet“ vor das Parlament in Stockholm. Das war die Geburtsstunde von Fridays for Future (FFF) – einer Bewegung, die nach ersten Medienberichten international schnell anwuchs. Drei Jahre zuvor hatte sich die Staatengemeinschaft auf der Pariser Klimakonferenz (COP 21) völkerrechtlich verbindlich darauf geeinigt, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
mehr »