Schwerpunkt Pressefreiheit: Freier, schneller und konsequenter

Aktham Suliman, Deutschlandkorrespondent von al-Dschasira, über die Berichterstattung aus den arabischen Ländern

Der arabische Fernsehsender al-Dschasira gilt für viele als ein Mitauslöser der Revolutionen in Tunesien und Ägypten. Aktham Suliman, Deutschlandkorrespondent des Senders, widerspricht dieser These und rechnet dennoch für die Zukunft mit großen Veränderungen in der arabischen Medienlandschaft.

M | Tunesien, Ägypten, Libyen, aber auch Syrien, Jemen oder Bahrain: Die arabische Welt schreit lautstark nach politischen Veränderungen. Es gibt die These, dass Medien wie das Internet oder eben auch al-Dschasira dabei eine entscheidende Rolle spielen. Sehen Sie das auch so?

AKTHAM SULIMAN | Es ist immer einfach Modelle aufzustellen, vor allem, wenn eine Situation rätselhaft ist. Viele fragen sich, warum die Revolution erst jetzt oder genau jetzt beginnt. Und warum in vielen Staaten gleichzeitig – und das, obwohl die Länder und ihre Regime sehr unterschiedlich sind. Das werden Soziologen und Politologen erst in ein paar Jahren klären können. Bis dahin suchen viele Menschen Erklärungen und sagen beispielsweise, die Massenmedien seien verantwortlich. Ich sehe das anders. Natürlich wäre die Entwicklung ohne Internet – vor allem ohne bestimmte Erscheinungen im Internet, wie Facebook oder YouTube – nicht vorstellbar. Und auch die arabischen Massenmedien wie al-Dschasira haben das ganze begünstigt. Aber ich bezweifle, dass sich damit das Phänomen erklären lässt. Ich behaupte, Revolutionen und Aufstände entstehen, wenn die Widersprüche und die Unfreiheit in einer Gesellschaft einen Punkt erreichen, der für die meisten Menschen nicht mehr erträglich ist.

M | Also hätte es den Umsturz in Tunesien, wo ja im Dezember alles begann, auch ohne Facebook gegeben?

SULIMAN | Ich denke ja. Er wäre vielleicht anders verlaufen, hätte zu einem anderen Zeitpunkt begonnen und wäre vermutlich auch anders beobachtet worden.

M | Haben Sie denn mit dieser Entwicklung gerechnet?

SULIMAN | Ich hätte jetzt gern mit Ja geantwortet. Aber so schnell, wie das entstand hat das alle überrascht, übrigens auch die Akteure selbst. In Ägypten habe ich mit vielen jungen Menschen gesprochen, die die Revolution sozusagen gestartet haben. Sie waren selbst überrascht von ihrer Kraft und von diesem Phänomen, wie die Massen mobilisiert wurden. Und plötzlich kam das Militär und hat gesagt, jetzt ist das vorbei mit dem alten Regime und Präsident Mubarak muss weg. Das war sogar für die Macher eine Sensation. Auf der anderen Seite muss ich sagen: Hätten wir Journalisten eine andere Herangehensweise als diese kurzfristige, ausschließlich am Tagesgeschehen orientierte, dann wäre uns vermutlich aufgefallen, dass Länder wie Tunesien und Ägypten auf einem Weg in eine Sackgasse waren. Wenn ein Herrscher Milliarden zur Seite legt, dann ist es irgendwann zu viel. Mubarak wollte außerdem unbedingt seinen Sohn an die Macht bringen. Das Volk und die Armee wollten das nicht. Von daher hatte sich die Krise eigentlich abgezeichnet.

M | Haben Sie den Eindruck dass die Protestbewegungen in Tunesien, Ägypten und den anderen Ländern miteinander vernetzt sind?

SULIMAN | Vernetzt nicht, aber sie beeinflussen sich gegenseitig. Sie sagen sich natürlich: Wenn es in Tunesien klappt, warum nicht auch bei uns!

M | Ich frage, weil auf dem letzten Weltsozialforum im Senegal arabische Nichtregierungsorganisationen Proteste in ihren Ländern angekündigt hatten. Trotzdem wurden die Medien überrascht!

SULIMAN | Aber das haben diese Organisationen immer getan. Das ist doch das Problem. Ich glaube nicht, dass sie wirklich miteinander vernetzt sind. Außerdem unterscheiden sich die Machtapparate, so dass ein gleiches Vorgehen in jedem Land gar nicht richtig wäre. Es war für die Bewegungen viel wichtiger, sich erst einmal intern zu vernetzen. Um nach außen wirkliche Netze aufzubauen, war doch viel zu wenig Zeit. Außerdem ist die Lage nicht von einem Land auf das nächste übertragbar. Libyens Machthaber Gaddafi zeigt mit seinem Vorgehen seit Wochen, dass ziviler Ungehorsam und Protest wie in Tunesien und Ägypten nicht immer erfolgreich sein werden. Auch in Syrien ist die Lage komplizierter. Aber ich bin überzeugt, dass die Situation nicht mehr umkehrbar ist: Länder wie Libyen, Syrien oder Jemen werden anders werden, selbst wenn die jetzigen Proteste vielleicht niedergeschlagen werden. Aber die Menschen werden sich nicht mehr alles gefallen lassen.

M | Auslöser der Proteste war die Selbstverbrennung des Tunesiers Muhamed Bouazizi am 17. Dezember 2010. Hat al-Dschasira damals eigentlich darüber berichtet?

SULIMAN | Ja, aber nur am Rande. Wir haben die Reichweite auch nicht erkannt. Ein arbeitsloser Mann hat sich vor dem Rathaus angezündet; das war eine kleine Meldung. Heute stürzen sich alle Medien – nicht nur al-Dschasira – auf die Familie und führen im Nachhinein Interviews.

M | Wie haben die einheimischen staatlichen Medien denn über die Aufstände berichtet?

SULIMAN | Am Anfang haben sie das ignoriert – in Tunesien zum Beispiel oder auch in Syrien. Später kamen Berichte über angebliche Verschwörer, die auf der Straße Ärger machen. Die politische Führung im eigenen Land wurde nicht kritisiert. In Ägypten ist erst nach dem Sturz von Mubarak ehrlich berichtet worden. In Libyen schweigen die staatlichen Medien bis heute. In Syrien gibt es inzwischen eine Berichterstattung, die allerdings versucht, zwischen berechtigten sozialen Protesten und angeblichen Gewalttätern zu trennen. Aber die eigentliche Information der Öffentlichkeit haben andere übernommen: al-Dschasira, al-Arabija, CNN oder BBC. Die waren einfach freier, schneller und konsequenter.

M | Aber das könnte sich ändern. In Tunesien und Ägypten, auch im Osten Libyens gibt es erste freie Medien.

SULIMAN | Das ist genau der Punkt. Eigentlich ist die Revolution unser Todesurteil – ein schönes Todesurteil! In Kairo haben mir junge Menschen nach dem Sturz Mubaraks gesagt, al-Dschasira hat uns geholfen und muss jetzt mit einem großen Büro in Kairo die Berichterstattung sichern. Ich habe ihnen geantwortet, an ihrer Stelle würde ich al-Dschasira schließen. Gemeint war, dass al-Dschasira nicht mehr gebraucht wird. Die Menschen sind jetzt frei und können ihre eigenen Sender aufbauen. Es ist doch absurd, dass die Menschen in Kairo einen Sender aus Katar anschauen, um zu wissen, was in Kairo los ist. Und die Entwicklung ist inzwischen längst da: Heute schaue ich eher ägyptisches Fernsehen als al-Dschasira, wenn ich wissen will, was in Kairo passiert. Die haben einfach mehr Sendeplatz dafür.

M | Al-Dschasira versteht sich ja als Sender von Arabern für Araber. Sind Sie automatisch näher dran an den Themen der Region?

SULIMAN | Ja natürlich. Wenn in Libyen zum Beispiel etwas passiert, etwa in Misrata, dann gibt es bei al-Dschasira immer Menschen, die genau wissen, was da los ist, also wer da lebt, welche Konflikte es gibt. Bei al-Dschasira arbeiten ja Menschen aus allen arabischen Ländern, Syrer, Ägypter und natürlich auch Libyer. Und als sich zum Beispiel die Situation in Ägypten zuspitzte, hat unsere Zentrale Korrespondenten aus Europa abgezogen und das Team in Kairo verstärkt. Ich bin ja selbst auch nach Kairo geflogen – zwei Tage, bevor Präsident Mubarak stürzte. Das haben wir gemacht, weil Ägypten für uns natürlich ein Land von immenser Bedeutung ist. Das merkte man auch beim Gaza-Krieg 2009 im Nahen Osten. Da waren wir mit drei Korrespondenten vor Ort. Die westlichen Medien wollten Leute schicken, als die Bombardements losgingen. Aber da kamen sie nicht mehr hinein und mussten von Israel oder Ägypten aus berichten. Wir hatten aber Journalisten da und konnten zum Beispiel selbst über Opfer in den Krankenhäusern recherchieren.

M | Wie schätzen Sie die Berichterstattung der europäischen und speziell der deutschen Medien seit dem Aufbruch in der arabischen Welt ein?

SULIMAN | Bei Tunesien war auffällig, dass sehr spät reagiert wurde. Man wollte vielleicht nicht wahrhaben, dass dieses Urlaubsland eine katastrophale Seite hat, dass der mit Europa befreundete Präsident und Laizist Ben Ali so ein Halunke ist. Über Ägypten war die Berichterstattung besser: Man hatte da zum einen die Reichweite der Entwicklung erkannt und zum anderen sowieso einen Korrespondenten in Kairo. In Tunis war das anders, das ist ja kein wichtiger Medienstandort für Korrespondenten. In Libyen ist die Situation hingegen gerade so unübersichtlich, dass kein Medium vollständig durchschaut, was da im Detail wirklich passiert.

M | Dem Sender al-Dschasira wird gelegentlich vorgeworfen, er sei nicht nur Medium, sondern auch politischer Akteur!
SULIMAN | Al-Dschasira wird oft so wahrgenommen, was auch daran liegt, dass es ein chaotischer Sender ist. Es gibt keine arabische Journalistenschule und in unserer Sprache arbeiten wir viel mit Metaphern. Da fragen sich viele, ob das noch Fernsehsprache ist oder ob da Sympathien durchschimmern. Entsprechend sind die Reaktionen: US-Außenministerin Hillary Clinton hat vor einiger Zeit gesagt, al-Dschasira sei der Sender der Demokratie in Arabien. Da haben sich viele bei uns gefreut. Aber der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat auch mal gesagt, wir seien verantwortlich für die gesamte Gewalt im Nahen Osten. Dabei sind wir einfach nur ein Nachrichtensender, der berichtet: mal über Gewalt, mal über demokratische Proteste.

M | Trotzdem kommt in der Berichterstattung doch auch schon mal Sympathie durch, oder?

SULIMAN | Natürlich kann die Stimmung einen mitreißen, ganz klar. Aber darf das in meinem Beitrag zu riechen sein? Ich behaupte, nein! Trotzdem kann das so herüberkommen. In Ägypten haben die Machthaber um Mubarak das Büro von al-Dschasira während der Proteste auf dem Tahrir-Platz geschlossen und nicht mehr mit uns gesprochen. Dann standen wir Korrespondenten auf dem Platz, und es kamen nur die Demonstranten zu Wort. Dadurch entstand bei manchen der Eindruck der Einseitigkeit, weil die anderen Stimmen fehlten. Viele dachten, al-Dschasira ist ein Sender der Revolution. Aber wir senden aus Doha, der Hauptstadt von Katar. Das ist nicht Kuba: Wir haben doch keine revolutionären Theorien. Wir sind Angestellte und verdienen gutes Geld mit unserer Arbeit.

M | Al-Dschasira sendet nicht nur aus Katar, der Sender gehört dem dortigen Emir. Wäre die Berichterstattung schwierig, wenn in Katar ebenfalls Proteste ausbrächen?

SULIMAN | Wenn es dort zu Protesten käme, gäbe es für al-Dschasira drei Möglichkeiten. Wir könnten entweder gar nicht berichten, das wäre unser Ende. Oder wir könnten ausführlich berichten, da wäre ich gespannt, wie der Scheich reagiert. Oder wir könnten halbherzig berichten: Das würde unser Leben etwas verlängern, aber auf Dauer wäre das vermutlich auch unser Ende.

M | Al-Dschasira ist ein arabischer Kanal, hat aber auch ein englisches Programm. Gibt es da Unterschiede in der Berichterstattung?

SULIMAN | Ja natürlich, schon weil da ganz andere Kollegen arbeiten. Für das englische Programm sind viele Menschen tätig, die für CNN oder BBC gearbeitet haben und nicht in arabischen Ländern geboren sind. Die sind in Kanada oder in den USA ganz anders sozialisiert und haben eine andere Sicht auf die Dinge und eine andere journalistische Herangehensweise. Das merkt man bei der arabischen Revolution. Das arabische Programm hat wochenlang praktisch über gar nichts anderes mehr berichtet, al-Dschasira Englisch hat es trotz einer Schwerpunktlegung auf den arabischen Raum geschafft, den Rest der Welt nicht zu vergessen. Beim arabischen Programm haben zum Beispiel erst viele Hinweise aus Europa dazu geführt, dass wir uns nach zwei Tagen auch dem Erdbeben und der atomaren Katastrophe in Japan angemessen gewidmet haben.

M | Und was ist aus Deutschland für al-Dschasira interessant?

SULIMAN | Natürlich erst einmal alles, was mit der arabischen Welt zu tun hat, wie kürzlich das Außenministertreffen in Berlin, auf dem auch über Libyen beraten wurde. Oder eine Afghanistan-Konferenz beziehungsweise eine Parlamentsdebatte zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Und wir schauen uns auch die arabischen Minderheiten hierzulande an. Dazu kommen Großereignisse wie zum Beispiel Bundestagswahlen. Und natürlich ist die wirtschaftliche Entwicklung in einem Land wie Deutschland immer wichtig.

Aktham Suliman

Aktham Suliman leitet seit Februar 2002 das Berliner Büro des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira. Während der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo reiste er – zwei Tage vor dem Sturz von Präsident Mubarak – nach Ägypten, um das dortige Team des Senders zu verstärken.
Geboren wurde Aktham Suliman 1970 in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Später studierte er in Berlin Kommunikationswissenschaften mit Schwerpunkt Publizistik, Islamwissenschaft und Politologie. Vor seiner Tätigkeit für al-Dschasira arbeitete er auch einige Jahre lang für die Deutsche Welle.

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