Sensationelles Ergebnis

Berufungsurteil im Göktepe-Prozeß in der Türkei

Siebeneinhalb Jahre. Seyid Battal Köse kann es nicht fassen. Bis zuletzt hatte er mit seinem Freispruch gerechnet. Doch nun muß der Polizist ins Gefängnis. Schockiert ruft er: „In diesem Land werden nicht nur die Schuldigen, sondern auch die Unschuldigen bestraft.“ Doch Seyid Battal Köse ist kein Unschuldiger. Er war der unmittelbare Vorgesetzte der Polizisten, die am 8. Januar 1996 den 27jährigen Journalisten Metin Göktepe grausam zu Tode folterten. Er hätte die Tat verhindern können. Aber er tat es nicht.

Metin Göktepe war am 8. Januar 1996 verhaftet worden, als er von der Beerdigung zweier im Istanbuler Gefängnis Ümraniye erschlagener politischer Häftlinge berichten wollte. Die Leiche des 27jährigen wurde später wenige hundert Meter von der Sporthalle entfernt gefunden, in die die Polizei ihn und rund 1.000 weitere Verhaftete verbracht hatte. Der Autopsiebericht stellte schwere körperliche Mißhandlungen fest. Die Todesursache war dem gerichtsmedizinischen Gutachten zufolge eine Gehirnblutung, verursacht von Knüppelschlägen (M berichtete mehrfach).

Am 6. Mai verkündete die Große Strafkammer im zentralanatolischen Afyon ihr Urteil im Göktepe-Prozeß. Es verurteilte die Polizisten Suayip Mutluer, Saffet Hizarci, Fedai Korkmaz, Metin Küsat und Murat Polat wegen „fahrlässiger Tötung“ zu siebeneinhalb Jahren Haft. Daß sie im Dienst gehandelt hatten, wertete das Gericht als straferschwerend. Als strafmindernd sah es hingegen an, daß nicht eindeutig habe geklärt werden können, wer Göktepe den tödlichen Schlag versetzte. Außerdem sei ihnen eine „gute Führung“ während des Prozesses zu attestieren, meinte das Gericht. Die Angeklagten waren zu den meisten Verhandlungstagen nicht erschienen. Ihr Vorgesetzter Köse wurde wegen Beihilfe ebenfalls zu siebeneinhalb Jahren verurteilt. Allerdings wird die reale Haftzeit aller Verurteilten wohl nicht mehr als drei Jahre betragen. Dann können sie nach türkischem Recht auf Bewährung entlassen werden. Fünf weitere angeklagte Polizisten wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Das erste Urteil des Gerichts vom März 1998 (siehe M 5/98, S. 34) war vom Kassationshof in Ankara wegen einer Reihe von Formfehlern und dem nicht begründeten Freispruch des Polizisten Murat Polat zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen worden. Nun sind sowohl die offenkundigsten Verfahrensfehler als auch der Freispruch Polats korrigiert worden. Das jetzt gefällte Urteil des Afyoner Gerichts muß zwar noch vom Kassationshof bestätigt werden. Prozeßbeobachter gehen jedoch davon aus, daß es diesmal Bestand haben wird. Auch den angekündigten Berufungsanträgen von Nebenklage und Verteidigung werden nur äußerst geringe Erfolgschancen eingeräumt. Damit scheint nach über dreijähriger Verhandlungszeit ein Prozeß an sein Ende gelangt zu sein, der wie kaum ein anderer über lange Zeit die türkische Öffentlichkeit bewegt hat. Er endete mit einem in der Türkei sensationellen Ergebnis: Ein türkisches Gericht hält es für erwiesen, daß türkische Polizisten einen Journalisten umgebracht haben.

Zu diesem einmaligen Urteil konnte es allerdings nur kommen, weil der Prozeß unter einem enormen öffentlichen Druck stand. Sogar Staatspräsident Süleyman Demirel hatte erklärt, der Göktepe-Prozeß hätte sich zu einem „Problem entwickelt, das gelöst werden muß“, die „türkische Ehre“ stünde hier auf dem Spiel. Die verurteilten Polizisten sind allerdings nur Bauernopfer. Denn das Urteil, so kritisiert Nebenklage-Anwalt Kamil Tekin Sürek, „verschweigt konsequent Mitverantwortlichkeit des Polizeiapparates bis in seine Spitze hinauf“.

Der letzte Verhandlungstag hatte mit zwanzigminütiger Verspätung begonnen. Vor Prozeßbeginn war es zu Tumulten zwischen den rund tausend aus der gesamten Türkei in Bussen angereisten Demonstranten und der Polizei gekommen. Die Ordnungskräfte wollten einen Demonstrationszug durch die Afyoner Innenstadt zum Gerichtsgebäude verhindern und ging mit einem Schlagstockeinsatz gegen die friedlichen Demonstranten vor. Dabei kam es zu etlichen Verletzten. Eine Rechtsanwältin, die zu den Nebenklagevertretern der Familie Göktepe gehörte, betrat anschließend den Gerichtssaal mit einem dick geschwollenen blauen Auge. Fadime Göktepe, die Mutter des getöteten Journalisten, brach während des Polizeieinsatzes in der Menge zusammen. Die Polizei drängte die Demonstranten zurück in ihre Busse und leitete sie auf einen an eine Militärkaserne angrenzenden Parkplatz in der Nähe des Gerichts. Dort mußten sie bis zu ihrer Abreise nach Verhandlungsende ausharren. Ihre Rufe wie „Er war ein Journalist, seine Stimme wird nicht verstummen“ verhalten weitgehend ungehört. Treffend überschrieb die Tageszeitung „Milliyet“ am nächsten Tag ihren Bericht über den Ausgang des Göktepe-Prozeßes: „Es fing mit Schlägen an und endete mit Schlägen.“

Von den Angeklagten waren nur Köse und Polat zur Urteilsverkündung erschienen. Polat war der einzige der Angeklagten gewesen, der noch in Untersuchungshaft saß. Alle anderen waren im Dezember letzten Jahres entlassen worden. Auch Polat konnte den Gerichtssaal am Donnerstag als freier Mann verlassen. Seine Haft wurde bis zur Bestätigung des Urteils durch das Kassationsgericht aufgehoben. Während Köse anwaltlich vertreten wurde, fehlten die Anwälte der anderen Angeklagten. Sie ließen sich entschuldigen – ihr letzter, vergeblicher Versuch der Prozeßverzögerung. Im Januar hatte sich einer der Verteidiger, Ahmet Ülger, noch siegessicher gegeben: „Alles andere als ein Freispruch wäre nicht gesetzeskonform.“

Mit dieser Einschätzung orientierte sich Ülger an der bisherigen Praxis der türkischen Justiz und der Strafverfolgungsbehörden: In den 90er Jahren sind in der Türkei 25 Journalisten ermordet worden. Der Fall Metin Göktepe ist der einzige, bei dem die Täter vor Gericht verurteilt worden sind.

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