Türkische Medien immer noch in der Krise

Über viertausend Entlassungen – Regional-Büros werden geschlossen

Als der türkische Ministerpräsident am 19. Februar nach einer Auseinandersetzung mit dem Staatspräsidenten die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates platzen ließ, haben die berichtenden Journalisten nicht im Traum daran gedacht, dass die darauf folgende Wirtschaftskrise sie so schwer treffen würde.

Kaum einen Monat später hatten die auflagenstärksten Zeitungen wie „Milliyet“, „Hürriyet“ oder „Sabah“ ihre west- und südtürkischen Regionalausgaben eingestellt und die Büros in Izmir, Antalya und Adana geschlossen. Das aber war nur der Anfang einer Entlassungswelle ohne gleichen in der türkischen Medienlandschaft. Anfang April 2001 standen etwa 4000 Journalisten, Kameraleute, Moderatoren, Toningenieure und Druckereiarbeiter ohne Job und Abfindung auf der Straße.

Die andauernde Wirtschaftskrise scheint aber nur ein Vorwand für die vielen Entlassungen in den Medien zu sein. Nail Güreli, ehemaliger Vorsitzender der Türkischen Journalisten Union (http:// www.tgc.org.tr) beschuldigte die Medienbosse, mit der Politik und der Wirtschaft enge Verbindungen zu haben. „Dass der Mediensektor mit der Politik so enge Beziehungen einging und verbilligte Kredite von staatlichen Banken bekam, führte zu einer überdimensionalen Einstellungspolitik in den Medien. Nun wird dieses Personal nicht mehr gebraucht und die Rechnung geht wieder mal an die Medienarbeiter.“ In der Türkei befanden sich 70 Prozent von 10 überregionalen Tageszeitungen, 17 TV-Anstalten und Radios in der Hand von zwei großen Holdings, die nicht nur im Mediengeschäft tätig sind. So gehören der Dogan Holding die meinungsbildenden Tageszeitungen „Hürriyet“, „Milliyet“ und „Radikal“ sowie die TV-Stationen CNN-Türk und Kanal D. Der Vorstandsvorsitzende der Bilgin-Gruppe Dinc Bilgin („Sabah“, ATV und mehrere Dutzend Zeitschriften) wurde Anfang April festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, die ihm gehörende ETIBANK für zinslose Kredite für sein Medienimperium ausgeschröpft zu haben.

„Die monopolistischen Medien bedrohen die Bürokratie und die Politik!“

Der kürzlich zurückgetretene Innenminister Sadettin Tantan war nicht ganz im Unrecht, als er mit diesem Satz plötzlich die gesamte Medienwelt gegen sich hatte. Als ein unermüdlicher aber auch harter Aufklärer, sah er die Verquickungen zwischen seinen Kabinettskollegen und den Medienholdings mit großer Besorgnis. „Gibt es eine Nachrichtenfreiheit?“ fragte er rhetorisch den Moderator bei NTV und beantwortete selbst: „Die Bevölkerung bekommt nur die Nachricht und die Meinung, die ihr von den Medien gefiltert vorgesetzt wird.“ Der Innenminister deutete die Korruptionsaffäre im Energiesektor an, die inzwischen den Energieminister Ersümer zum Rücktritt zwang. Besonders die auch im Energiesektor vertretene Dogan-Holding mit ihren Blättern „Hürriyet“ und „Milliyet“ war nicht gerade über die Aufklärungsarbeit des Innenministers erfreut. Der Feldzug endete 1:0 für die Medien: Tantan trat Anfang Juni zurück.

Neues Rundfunkgesetz im Parlament bestätigt, aber vom Staatspräsidenten abgelehnt

Der Versuch, die Medien unter Kontrolle zu halten, ist nicht neu in der Türkei. Mit den gültigen Gesetzen konnte man bisher auch größere Sender für mehrere Tage lahmlegen. Sie durften einfach nicht senden. Der Rat für Werbung in der Presse kann auf Antrag verbieten, dass eine bestimmte Zeitung Werbung verkauft und somit die Hauptschlagader der Tagespresse kappen. Mit einem im türkischen Parlament verabschiedeten Gesetz wollte die Koalitionsregierung nun auch das Internet zensieren. Die inzwischen aus dem Gesetz gestrichenen Regelungen sahen vor, dass Anbieter von Internet-Seiten eine Genehmigung der Behörden einholen und die Staatsanwaltschaft stets über Aktualisierungen ihrer Web-Site informieren müssten. Die verabschiedete Version sieht jetzt hohe Geldstrafen bei Beleidigung und Desinformation vor.

Inzwischen ist dem Gesetz vom Staatspräsidenten die Zustimmung verweigert worden, da es „gegen demokratische Traditionen, grundlegende Rechte und Freiheiten sowie die Verfassung verstößt.“ Das Parlament muss neu beraten. Die Taktik der Regierung ist wegen heftiger Proteste nur teilweise aufgegangen. Denn viele der arbeitslosen Journalisten hatten ihre eigenen Web-Sites und Nachrichtenportale gegründet und schreiben nun hier ohne den Druck einer Medienholding im Nacken.

Ein anderer Versuch ist das von einer Initiative gestartete „Journalistenparlament“ (http://www.gazetecilermeclisi.org). Ähnlich den Konzepten wie bei „Le Monde“, „Canard Enchaine“, „Picardie“, „Liberation“ oder der „Tageszeitung“ befasst sich eine wachsende Gruppe von Journalisten mit der Gründung einer neuen, alternativen Tageszeitung. Die Diskussionen um Inhalte und die Finanzierung lässt jedoch das Projekt sehr langsam voranschreiten.

 

 

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