Viele Notrufe in kurzer Zeit

Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid schüttelt einem Journalisten nach der ersten Pressekonferenz am 17. August 2021 in Kabul die Hand. Mujahid gelobt die Frauenrechte zu respektieren und für ein sicheres Afghanistan zu sorgen. Foto: AP/Rahmat Gul

Pressefreiheit in Afghanistan vom Gutdünken der Taliban abhängig

In den vergangenen 20 Jahren konnte sich in Afghanistan eine diverse Medienlandschaft entwickeln. Doch nun sind Medienschaffende besorgt: Mit dem Vormarsch der Taliban sehen sie die Pressefreiheit in Gefahr. Besonders Frauen werden von den Islamisten bedroht und von der Arbeit abgehalten. Wir sprachen mit Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen (ROG) über die Gefahrenlage vor Ort, die Evakuierungen der Bundesregierung und die Notwendigkeit von Berichterstattung in Krisengebieten.

Einigen Journalist*innen gelang nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan die Flucht ins Ausland. Andere sind geblieben, kamen nicht weg. Wie sieht deren Alltag nun aus?

Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF) ist Journalist, Menschenrechtsaktivist und Experte für internationale Medienpolitik.
Foto: RSF

Zum einen haben es nur wenige geschafft. Die Liste der gefährdeten Medienschaffenden, die wir als Organisation für Deutschland und andere Länder verfasst haben, war viel länger. Ich freue mich natürlich über jeden Menschen, der es raus geschafft hat. Gleichzeitig bin ich aber auch traurig, so viele Notrufe in so kurzer Zeit zu bekommen, und bei einem Großteil bislang nicht helfen zu können. Diejenigen, denen die Flucht nicht gelungen ist, haben Angst. Sie wissen nicht, wie es weitergeht, und sie misstrauen zurecht den Ankündigungen der Taliban, die Pressefreiheit zu respektieren. Vor kurzem gab es das drastische Bild im staatlichen Fernsehen, wo bewaffnete Talibankämpfer hinter einem Nachrichtensprecher standen.

Wovor haben afghanische Journalist*innen am meisten Angst?

Sie haben Angst, dass die Taliban genauso vorgehen werden wie in ihrer letzten Regierungszeit. Und das ist durchaus realistisch. Nicht umsonst betrachten wir die Taliban als eine der feindlichsten Gruppen für die Pressefreiheit weltweit. Diese Einschätzung resultiert nicht aus den 90ern, sondern aus den letzten Jahren. In den letzten Wochen haben rund einhundert private Lokalmedien insbesondere in den Provinzen ihren Betrieb eingestellt. Insbesondere die Frauen haben nun noch mehr Angst vor Gewalt, Verhaftung und Berufsverboten. Angst um ihr Leben und das ihrer Familien. Wir wissen ja, dass die Taliban von Haus zu Haus gehen und gezielt Leute suchen. Auch Journalist*innen.

Was bedeutet das für die Arbeit in den Redaktionen?

Da gibt es große Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Wir hören immer wieder von Frauen, die zur Arbeit erscheinen, dann aber nicht arbeiten dürfen. Sie werden nicht eingelassen oder mussten ihre Passwörter abgeben. Aber da ist auch vieles in Bewegung. Es gibt offenbar Investigativ-Journalistinnen, die noch immer arbeiten und – stark verschleiert – dennoch recherchieren. Auch deutsche Medien haben nach wie vor lokale Producer vor Ort. Die versuchen unter sehr gefährlichen Bedingungen, an ihre Redaktionen zu liefern. Und es gibt auch noch immer beziehungsweise wieder einige ausländische Journalistinnen und Journalisten im Land, auch deutsche.

Deren Arbeit in Afghanistan ist ebenso gefährlich. Sollten westliche Medien um jeden Preis aus solchen Krisenregionen berichten?

Nicht um jeden Preis. Denn das Berichten ist ja kein Selbstzweck. Es ist eine Frage von individueller Gefahrenabwägung. Die Entscheidung in ein solches Gebiet zu reisen, muss jede*r zunächst selbst fällen. Aber den Redaktionen kommt dabei eine ungeheuer große Verantwortung zu. Da braucht es ein Sicherheitsprotokoll und man braucht gute Lokalkenntnisse. Gerade wenn es freiberufliche Journalist*innen sind, die das Risiko alleine tragen, sind die Redaktionen im Hintergrund gefragt. Grundsätzlich ist es wichtig, hinzuschauen und den Wandel vor Ort journalistisch zu beschreiben. Denn wenn sich die Öffentlichkeit aus dem Land weiter zurückzieht, dann könnten noch schlimmere Dinge passieren als jetzt schon.

Wie verläuft die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden?

Wir haben das Auswärtige Amt schon in der Vergangenheit immer wieder auf die Lage der Pressefreiheit in Afghanistan aufmerksam gemacht. Aber die Bundesregierung hat sich die Situation jahrelang in ihren Lageberichten schöngeredet. Seit der Machtübernahme haben wir dem Auswärtigen Amt beinahe täglich aktualisierte Listen von bedrohten Journalist*innen geschickt. Darauf sind aktuell mehr als 100 Medienschaffende. Für jeden einzelnen Fall haben wir eine Mandatsprüfung vorgenommen. Wir haben es geschafft, 20 oder 21 Menschen außer Landes zu bekommen. Aber nur wer bis zum Tag der Beendigung der deutschen Luftbrücke als gefährdet eingestuft wurde, soll laut Auswärtigem Amt Anspruch auf eine Aufnahme in Deutschland haben. Wir fordern allerdings, dass die Listen auch über diesen Stichtag 26. August hinaus offengehalten werden, und wissen auch gar nicht, wer von unserer Liste als gefährdet eingestuft wurde. Denn das Auswärtige Amt hat den Bearbeitungsstand der Listen zu keiner Zeit zurückgemeldet. Außerdem wissen wir noch nicht, ob Nachmeldungen für dieses Aufnahmeverfahren möglich sind. Wir erwarten ein unbürokratisches Vorgehen der Bundesregierung und eine Grundsatzentscheidung darüber, was mit denjenigen Medienschaffenden geschieht, die nun in Drittstaaten ausgereist sind. Wann und wo bekommen sie ein Visum? Das alles ist noch unklar. An vielen Stellen ist und war das Auswärtige Amt da offensichtlich überfordert.

Dafür gab es ja dann die zivile Luftbrücke.

Für diese Initiative sind wir auch sehr dankbar und haben sie unterstützt. Über die zivile Luftbrücke konnten wir mit Hilfe des US-Militärs 16 Menschen außer Landes bringen. Über die Bundeswehr haben wir nur eine Journalistin herausbekommen. Auch alle weiteren Medienschaffenden von unserer Liste haben mit US-Flugzeugen das Land verlassen.

Interview: Julia Hoffmann

 

 

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