„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp. Foto: David Ausserhofer

Lena Hipp. Foto: David Ausserhofer

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.

M | Was macht „gute Arbeit“ aus?

Lena Hipp | Wenn wir von „guter Arbeit“ sprechen, geht es zum einen darum, dass Arbeit „gemacht wird“ und zum anderen um „gute“ Arbeitsbedingungen. Als Soziologin befasse ich mich eher mit letzterem. Was Arbeit „gut“ macht hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Im DGB-Index „Gute Arbeit“ zum Beispiel werden unter anderem das Gehalt, die Zahl der Stunden und die konkreten Tätigkeiten erfasst. Ob oder inwieweit eine Arbeit dann als „gut“ bewertet werden kann, basiert auf einem komplexen Zusammenspiels dieser Parameter.

„Gute Arbeit“ ist demnach eine objektiv feststellbare Tatsache?

Es gibt sicherlich Arbeitsbedingungen von denen alle Menschen sagen würden, dass sie nicht gut sind. Bei der Frage aber, welche Arbeitsbedingungen nun „gut“ sind, gibt es weniger Übereinstimmung. Was von manchen Arbeitnehmer*innen als belastend empfunden wird, ist für andere vielleicht eine interessante oder sogar leicht zu meisternde Herausforderung. Auch der Kontext spielt eine Rolle. Wer lange arbeitslos war oder Angst um seinen Arbeitsplatz hatte, der ist vielleicht schon mit einem auf wenige Monate befristeten Arbeitsvertrag zufrieden. In einem Arbeitsumfeld, in dem alle Kolleg*innen unbefristete Verträge haben, trifft das aber wahrscheinlich nicht zu.

Welche Rolle spielt die mentale Gesundheit in den Vorstellungen und Konzepten von „guter Arbeit“?

Im arbeitssoziologischen Fachdiskurs, aber auch in Unternehmen und dem Wissenschaftsbetrieb selbst wird zusehends über das Thema mentale Gesundheit gesprochen. Das ist wichtig, auch damit das Thema endlich nicht mehr mit Scham besetzt ist und aus der Schmuddelecke herauskommt. Heute lässt man die Leute nicht mehr so sehr allein, sondern versucht, Wege zu finden und aufzuzeigen, um besser mit Stress, Unsicherheiten und Ängsten im Arbeitsalltag umgehen zu können. Mentale Erkrankungen werden inzwischen genauso ernst genommen wie körperliche.

Wie erklären Sie sich das?

Mit Blick auf die hohen Krankstände erkennen Unternehmen zusehends, dass Mental Health auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Nur wenn es den Leuten gut geht, kommen Sie zur Arbeit und bringen die Leistung, wie sie sich die Gesellschaft, die Unternehmen und auch die Individuen selbst wünschen. Das eine bedingt das andere.

Zählen dazu auch Selbstwirksamkeitserfahrungen etwa in der betrieblichen Mitbestimmung – wenn Menschen thematisieren können, was ihnen guttut und dabei auch gehört werden?

Auf jeden Fall. Autonomie und Selbstbestimmung stehen ganz weit oben bei dem, was Menschen zufrieden mit ihrer Arbeit macht. Das Kriterium „Mitbestimmung“ fließt daher vollkommen zu Recht in den besagten DGB-Index mit ein.

Inwieweit sehen Sie im journalistischen Berufsfeld die genannten Parameter „guter Arbeit“ verwirklicht?

Den Journalismus sehe ich durch eine große strukturelle Ungleichheit gekennzeichnet: der Polarität zwischen den Festangestellten in den großen Medienhäusern sowie der Heerschar an Freelancern, die häufig nicht wissen, wo die nächsten Aufträge herkommen und wo sie ihre Themen unterbringen sollen. Freelancer sind, ähnlich wie befristet Beschäftigte und Soloselbständige, großen Unsicherheiten ausgesetzt und müssen permanent unternehmerisch tätig sein. Eine Zeitlang mag das gutgehen und macht vielleicht auch Spaß. Doch was passiert bei Krankheit oder wenn die Verantwortung für Kinder dazukommt? Da bricht das gesamte zarte Gebilde häufig schnell zusammen.

Welche weiteren Stressoren beobachten Sie im Berufsfeld?

Im Journalismus gibt es aktuell sehr viele Veränderungen und Umbrüche. Das betrifft etwa die Herausforderung, dass Menschen nicht dafür bezahlen wollen oder können, was sie lesen oder die Politik der Verlage, mit einer immer geringeren Zahl von Festangestellten zu arbeiten. Dazu kommt die Frage nach den Konsequenzen, wenn die Künstliche Intelligenz im Berufsfeld immer mehr Fuß fasst. Die Angst vor dem Jobverlust oder Umbrüchen in der Branche wirkt sich stark negativ auf das Wohlbefinden aus. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust ähnlich negative Auswirkungen hat wie ein tatsächlicher Jobverlust.

Viele Journalist*innen identifizieren sich stark mit ihrer Arbeit, haben ein starkes Sendungsbewusstsein und begreifen ihre Tätigkeit sogar als politischen, aufklärerischen Auftrag. Insgesamt ist das Berufsfeld von einer hohen beruflichen Einsatzbereitschaft und von starker Eigenverantwortung geprägt. Provozieren diese Ausgangsbedingungen besonders häufig Burnouts?

Da kommen tatsächlich zwei der „Hauptzutaten“ für Burnout zusammen: Eine hohe intrinische Motivation einerseits und prekäre Arbeitsbedingen und Druck anderseits. Meine Kollegin Erin Cech hat das in ihrem gleichnamigen Buch das „Problem mit der Leidenschaft“ genannt.

Was meinen Sie damit?

Wer sich mit einer starken Leidenschaft für seine Arbeit begeistert und sie als enorm wichtigen Teil der eigenen Identität begreift, läuft Gefahr, sich systematisch selbst auszubeuten und permanent eigene Grenzen zu überschreiten. Das zeigen zahlreiche wissenschaftliche Studien. Für die systematische Selbstausbeutung braucht es also gar keinen exploitativen Arbeitsgeber – das bekommen die meisten Menschen gut selbst hin. Das „Problem mit der Leidenschaft“ beschränkt sich nicht auf einzelne Branchen und Berufe und dürfte auch im Journalismus weit verbreitet sein.

Wo sehen Sie erste Ansätze für kollektive und individuelle Fürsorge, um den Stressoren zu begegnen und die eigene Resilienz zu stärken?

Es ist paradox: Durch neue Diskurse und Arbeitsformen existiert zwar eine größere Toleranz gegenüber Mental-Health-Themen, doch gleichzeitig wachsen die Stressoren. So ist es zwar inzwischen weniger schambehaftet, über mentale Gesundheit und Psychotherapie zu sprechen. Aber dennoch erleben wir eine Arbeitswelt, in der die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben durch Homeoffice und flexible Arbeitszeiten viel volatiler und durchlässiger werden. Aus der sozialwissenschaftlichen Forschung wissen wir, dass Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten in der Regel länger arbeiten und viel häufiger Unterbrechungen ausgesetzt sind, etwa wenn in der Freizeit unabgesprochen Kurznachrichten oder Anrufe bekommen.

Können Sie Best-Practice-Beispiele nennen?

Hier steht man gerade erst am Anfang. In einigen Organisationen und Unternehmen gibt es bereits Trainings, in denen es darum geht, wie Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen angemessen auf das Thema Mental Health angesprochen werden können und welche Anzeichen es bei psychischen Problemen und Überlastung gibt. Doch gerade vor dem Hintergrund eines häufigen Fehlens von Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben und der starken Flexibilität in vielen Branchen und Berufen stellt sich die Frage, wie erfolgreich solche Trainings am Ende wirklich sein können.

Was kann man dennoch tun?

Jede*r kann genau beobachten und versuchen, ein gutes Vorbild zu sein. Wenn etwa alle Mitarbeiter*innen jederzeit online sind, dann ist es für Einzelne schwer, sich dem zu entziehen. Dazu kommt das, was auch von Gewerkschaftsseite betont wird: E-Mails am Wochenende wegen der Pausenzeiten zurückzuhalten oder als Vorgesetzte darüber zu sprechen, dass die Pausen wichtig sind, darauf achten, dass die Leute ihren Urlaubsanspruch einlösen und dass sie nicht zu viele Überstunden machen.

Sie forschen zum Thema Ungleichheit in der Arbeitswelt. Welche Ungleichheitsaspekte und -bereiche beobachten Sie in Bezug auf Mental Health im Bereich Journalismus oder der Wissenschaft?

In Bezug auf den Wissenschaftsbetrieb oder auch den Journalismus gibt es meines Wissens dazu bislang kaum systematische empirische Evidenz. Es gibt natürlich institutionelle Faktoren, die Stress verhindern und der mentalen Gesundheit einträglich sind: Ausreichendes Arbeitseinkommen, ausreichende Jobsicherheit, geregelte Arbeitszeiten und Planungssicherheit. Wozu in der vergangen Zeit jedoch einiges an Forschung entstanden ist, ist der Bereich der mentalen Belastung. Berufsübergreifend lässt sich hier ein Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen, weil Frauen in Beziehungen und in Familien tendenziell noch zusätzlich den Mental Load schultern. Es hilft abends sicherlich nicht dabei, vom anstrengenden Job abzuschalten, wenn man eigentlich noch den gesamten Familien- und Beziehungsalltag plant.

 

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