Einander zuhören

Medien sind mit einer Vertrauenskrise konfrontiert, bei der die klassische
Rollenverteilung zwischen Sender und Empfänger nicht mehr funktioniert. Vor allem klassische Medien haben Nachholbedarf, wenn es darum geht, Nutzer*innen anzusprechen und mitzunehmen. Neue Formen des Dialogs sind deshalb entstanden. Sie eröffnen Chancen und zugleich müssen Fragen beantwortet werden, die sich vorher nicht gestellt haben. So ist das, wenn alle versuchen, mit allen zu reden.

Es ist nicht die vornehmste Aufgabe der Redaktionen, mit jenen zu reden, für die sie journalistische Produkte machen. Die vornehmste Aufgabe der Redaktionen ist kritischer Journalismus, der als eine wichtige und notwendige Voraussetzung für ein demokratisches Gemeinwesen gelten kann. Es wäre Augen-wischerei zu leugnen, dass dabei die Rollenverteilung grundsätzlich auf Sendende und Empfangende festgelegt ist. Journalismus funktioniert so, daran ändern auch die vermeintlich oder wirklich dialogischen Formate erst einmal nichts. Und auch nicht die Binsenweisheit, dass niemand nur sendet oder nur empfängt, sondern immer von Wechselwirkungen auszugehen ist.

Jedoch gründet eine deliberative Demokratie (Joseph M. Bessette, Jürgen Habermas) wesentlich auf öffentlichem Diskurs. Diskurs aber, das lernen wir sehr früh, setzt darauf, dass beide oder alle Seiten zu Wort kommen und einander zuhören. Der öffentliche Diskurs ist in der Krise – nicht erst seit, aber verstärkt durch sozialmediale Öffentlichkeiten, bei denen wir es uns zu einfach machten, übersetzten wir sie nur mit „Soziale Medien“. Der Journalist und Blogger Sascha Lobo schreibt sogar vom „Ende der Gesellschaft“. Meint, wie wir sie kennen, denn nun existiere eine „neue, -digital, sozial vernetzte Öffentlichkeit, die anders funk-tioniert als die massenmedial geprägte Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts“. Eine Welt, in der galt, was der Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann mit dem Satz beschrieb: „Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.“ – Waren das Zeiten, mag da manch einer denken.

Die Massenmedien aber sind in der Krise und weil sie in der Krise sind, stellt sich die Frage, ob ihr Rollenverständnis ein anderes werden muss. Vor allem aber, ob das Verhältnis zwischen jenen, die uns die Welt journalistisch aufbereiten, und jenen, die sich mit Hilfe dieser Informationen die Welt erklären und eine Meinung bilden, ein anderes werden sollte. Paternalismus und schwarze Pädagogik gelten nicht mehr als Mittel der Wahl. Und was ein Leitmedium ist (auch wenn mit dem Begriff noch allzu gern gearbeitet wird), bestimmen nicht mehr jene, die Zeitung produzieren oder Nachrichtensendungen machen.

Längst sind die Zeiten vorbei, da die Grundversorgung mit und die Einordnung und Aufbereitung von Informationen wesentlich den klassisch journalistischen Medien oblag. Inzwischen kann jede und jeder senden und empfangen. Es gilt nicht mehr, dass die morgendliche Zeitungslektüre und die abendliche Tagesschau den Informationsstand bestimmen und die Meinungsbildung prägen. Information, Aufklärung, Aufdecken von Missständen, Kontrolle und Einordnung politischen und ökonomischen Handelns, die Welt ins Wohnzimmer bringen und erfassbar machen, meine Zeitung, mein Radio, meine Abendschau – das ist vorbei. Oder mindestens ganz anders.

Die Krise schlägt sich ökonomisch nieder in sinkenden Auflagenzahlen und Quoten. Und sie ist eine kulturelle Krise, die weit verbreitet und vereinfacht mit „Medienskepsis“ übersetzt wird. Das Vertrauen in die Medien ist gesunken und den Verlust hebt nicht auf, dass dieses Vertrauen in der jüngeren Vergangenheit wieder ein wenig stieg. Schließlich war es zuvor ziemlich im Keller und von da bis hoch aufs Dach ist es ein weiter Weg.

Eine*r von vieren in Deutschland hält der Mainzer Langzeitstudie „Medienvertrauen“ aus dem Jahr 2018 zufolge Medien für nicht vertrauenswürdig und bezichtigt sie der gezielten Manipulation. 16 Prozent glauben, dass die Medien sie systematisch belügen, 27 Prozent sagen, „die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren“. 43 Prozent der Befragten äußerten die Überzeugung, dass die Medien die gesellschaftlichen Zustände ganz anders darstellen, als es die Bürgerinnen und Bürger in ihrem eigenen Umfeld wahrnehmen. Angebracht erscheine deshalb die Forderung, heißt es in der Mainzer Langzeitstudie, dass die Medien die Lebenswelt ihres Publikums nicht aus den Augen verlieren dürfen. Was im Umkehrschluss heißt, dass sie es in weiten Teilen bereits getan haben.

Und genau da beginnt etwas, das wir als einen Versuch der Medienmacher*innen beschreiben können, sich den Lebenswelten ihres Publikums anzunähern. Dialogische Formate entstehen, Einladungen werden ausgesprochen, Leserkonferenzen abgehalten, Kommentarspalten geöffnet, Begegnungen organisiert, Community-Redaktionen verstärkt, Arbeitsweisen geändert. Und so werden am Ende auch Erwartungen geweckt. Von denen man noch gar nicht oder nur ein wenig weiß, worin sie eigentlich bestehen. In der Sprache des Marktes ließe sich sagen: Es werden Bedürfnisse produziert. Und es ist nicht klar, ob diese Bedürfnisse auch befriedigt werden können. Aber das Risiko gilt es wohl einzugehen.

Die stellvertretende Chefredakteurin Zeit Online Hamburg, Maria Exner sagte dazu auf dem Herbstforum der Initiative Qualität 2019: „Wir brauchen also auch mehr Dialog, um Menschen eine Stimme zu geben, die sonst ungehört blieben. Das ist kein Selbstzweck. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Art der Repräsentation ein entscheidender Faktor für die Glaubwürdigkeit der Medien ist.“

Von Entfremdung ist also die Rede und einem daraus erwachsenden Glaubwürdigkeitsverlust. Heißt auch, was jetzt getan wird, beruht auf dem Eingeständnis eines Versäumnisses, einer Unterlassung. Denn Entfremdung ist fast immer die Angelegenheit mindestens zweier Seiten. Wenn „Menschen ungehört bleiben“, ist das eine kritische Bestandsaufnahme, die tatsächlich zwingt, was man tut, zu überdenken und das Koordinatensystem zu prüfen, in dem bislang Journalismus stattgefunden hat. Das Koordinatensystem sagt: Journalismus hat seine Deutungs- und Erklärungshoheit verloren. Er muss sie sich teilen mit anderen.

„Beim direkten Vergleich zwischen einer gedruckten Zeitung und dem, was auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken stattfindet“, schrieb Sascha Lobo in Blätter, wirke die Medienlandschaft als „gefühlsblinder, kalter, durchregulierter Monolith“. Information sei nur ein Beiprodukt sozialer Gefühlsmedien, „bei denen nicht zentral ist, ob sie journalistischen Kriterien folgen oder nicht oder nur so halb oder nur so tun als ob“. Es scheine, als sei das Bild der Gesellschaft, das in den sozialen Medien gezeichnet werde, näher an der Wirklichkeit, als das massenmedial vermittelte. Und der österreichische Journalist Armin Wolf befand – in Blätter: „Das traditionelle Geschäftsmodell professioneller Medien – wir verkaufen unsere Inhalte an unser Publikum und unser Publikum an Werbekunden – wurde durch die Digitalisierung bis an die Grenzen seiner Tragfähigkeit disruptiert (…).“

In der Krise, die alle – die Optimisten und die Pessimistinnen – dem Journalismus bescheinigen, geht man neue Wege. Einer davon ist der Versuch, sich mit den „Kunden“ ins Benehmen zu setzen. Nicht durch Werbeaktionen und Abogeschenke, sondern in direktem Austausch. „Wer bist du“, fragen die Medien, nachdem sie viel zu lange behauptet haben, genau dies sehr gut zu wissen. Das ist gut. Auch wenn dahingestellt bleiben muss, ob aus der Not geborene Zuwendung wahrer Neugier und echtem Interesse entspringt oder eben eine Notlösung ist. Diese Frage ließe sich nur beantworten, arbeitete man mit Unterstellungen.

Setzt man wahres Interesse und echte Neugier voraus, bleibt trotzdem die Frage, ob Journalismus besser werden kann durch Leserkonferenzen und Leser-Workshops und Algorithmen, mit deren Hilfe Menschen, die verschiedener Meinung sind, paarweise zusammengebracht werden und miteinander reden. Gefolgt von den Fragen, ob hier Erwartungen geweckt werden, die nicht erfüllbar sind, und ob dadurch korrumpierende Beziehungen entstehen, die der Unabhängigkeit des Journalismus mehr schaden als nützen.

Lässt sich der Verlust der Deutungshoheit professioneller Medien dadurch wettmachen, dass sie sich und ihre Arbeitsweise jenen, für die sie gemacht werden, erklären? Nein. Aber das ist kein Grund, sich nicht zu erklären und nicht ins Gespräch zu kommen und nicht zuzuhören und daraus im besten Fall Schlussfolgerungen für die eigene Arbeit zu treffen. Eine Überhöhung dessen, was da jetzt passiert und getan wird, richtete allerdings großen Schaden an.

In feiner Ironie nennt Zeit Online ihren Transparenzblog „Glashaus“. Das ist gut, denn im Glashaus sitzen jene, die „klassische“ Medien machen, als vierte Gewalt gelten und vierte Gewalt bleiben sollten, zugleich aber zum großen Teil unter Bedingungen arbeiten, die es nicht einfach machen, Qualitätsjournalismus zu liefern. Das Wettrennen um Geschwindigkeit und Exklusivität, sinkende Einnahmen aus Abonnements und Werbung erhöhen nicht nur den Druck, sondern nehmen auch allen jene Zeit, die notwendig ist, sich mit den Lebenswelten derer, für die man Medien macht, zu befassen.

Daran werden die nun betriebenen, vertrauensbildenden Maßnahmen erst einmal grundsätzlich nichts ändern. Denn wir müssen davon ausgehen, dass die Menschen, die sich darauf einlassen und daran beteiligen, nicht unbedingt jene sind, die sich mit Begriffen wie „Lügenpresse“ die Welt erklären. Eine Leserkonferenz muss – und das ist kein Vorwurf – eine gewissermaßen elitäre Veranstaltung bleiben. Aus ihr Schlussfolgerungen zu ziehen oder Erkenntnisse zu formulieren, wie es wohl jenen gehen mag, die resigniert, desinteressiert, längst entfremdet sind, wäre fatal. Insofern bleibt die vornehmste Aufgabe des Journalismus, dem Ideal zu folgen, Fackel der Aufklärung zu sein, Missstände zu thematisieren, die Demokratie zu stärken, Informationen zu liefern.

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