Eingriffe in die freie Berichterstattung auch in Europa
Mit der Auflösung der UdSSR hatten viele auf Besserung gehofft: Doch in Russland und einigen anderen früheren Sowjetrepubliken ist die Pressefreiheit bis heute nicht verwirklicht. Probleme gibt es aber auch in westeuropäischen Staaten.
Auch knapp vier Jahre nach der Ermordung von Anna Politkowskaja ist der Mord an der russischen Journalistin ungeklärt. Zwar müssen sich vier Männer vor dem Moskauer Militärgericht für die Tat verantworten, doch dürften sie eher am Rande mit der Tat zu tun haben. Die Hintermänner und der Todesschütze sind weiter auf freiem Fuß, und der Umgang der Justiz mit dem Fall lässt eher darauf schließen, dass die genauen Umstände der tödlichen Schüsse vom 7. Oktober 2006 auf die mit der Lage in Tschetschenien vertraute Journalistin gar nicht ans Tageslicht kommen sollen.
In den vergangenen zehn Jahren sind mindestens 19 Mitarbeiter von Medien in Russland ermordet worden. Wie das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) dokumentierte, ist nur in einem Fall ein Verantwortlicher verurteilt worden. Und nicht zuletzt wegen der systematischen Straflosigkeit müssen kritische Journalisten bis in die Gegenwart um ihr Leben fürchten – vor allem, wenn sie sich mit der Politik Moskaus in Tschetschenien und den anderen russischen Kaukasus-Republiken befassen. Auch die Recherche zu dubiosen Geschäften von Regierungsmitgliedern oder von kriminellen Gruppierungen ist lebensgefährlich. Und von Präsident Dmitry Medwedew und Premierminister Wladimir Putin sind bestenfalls halbherzige Distanzierungen von den Übergriffen auf Journalisten zu hören.
Zunehmende Selbstzensur
Das Missfallen der Kritik hat dazu geführt, dass in russischen Fernsehsendern die Opposition praktisch gar nicht vorkommt. Auch in den Zeitungen nimmt die Selbstzensur zu: Die Zahl der kritischen politischen Beiträge ist seit Jahren rückläufig. Lange galt das Internet als ein letzter Freiraum, doch auch hier ist die Moskauer Führung dabei, gezielt gegen oppositionelle Seiten vorzugehen.
In den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die Lage teilweise noch dramatischer: Vor allem in Turkmenistan und Usbekistan gibt es für Andersdenkende nahezu keine Möglichkeiten, sich öffentlich zu äußern. In Usbekistan sind derzeit mindestens sieben Journalisten inhaftiert. Wer Präsident Islam Karimow kritisiert, muss mit harten Strafen rechnen. So wie sein Neffe Jamschid Karimow, der nach Artikeln über soziale und wirtschaftliche Probleme im September 2006 in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde. CPJ-Direkor Joel Simon beklagt: „Vor allem seit dem Massaker von Andischan im Jahr 2005 gibt es kaum noch Informationen aus Usbekistan. Viele Journalisten mussten aus Angst vor Verfolgung das Land verlassen, und wer blieb, ist oft Drohungen der Behörden ausgesetzt.“
Nur wenig besser sieht es in Weißrussland aus. Die ohnehin seit Jahren katastrophale Lage der Medien in der „letzten Diktatur Europas“ ist in den vergangenen Wochen noch einmal verschlechtert worden. Polizisten durchsuchten im Februar und März mehrere Redaktionsräume und Privathäuser von Journalisten, beschlagnahmten Computer und sprachen unverblümt Drohungen aus. Betroffen war unter anderem die regierungskritische Zeitung Narodnaja Volja. Der weißrussischen Journalistenvereinigung BAJ wurde am 22. März gerichtlich untersagt, ihren Mitgliedern einen Presseausweis auszustellen. Die Richter bestätigten damit eine Verordnung der Regierung in Minsk. „Das Vorgehen der Behörden ist absurd und illegal“, meint Aidan White, Generalsekretär der Internationalen Journalistenvereinigung IFJ. „Es ist offensichtlich, dass die Maßnahme gegen das kompromisslose Eintreten des BAJ für Pressefreiheit und die Rechte von Journalisten gerichtet sind.“
Massenprotest in Italien
Auch in Westeuropa gibt es Journalisten, die um ihre Freiheit oder ihr Leben fürchten müssen. Baskischen Medienleuten, denen eine Nähe zur militanten Separatistenorganisation ETA nachgesagt wird, müssen mit einer Anklage und jahrelangen Haftstrafen rechnen (M1–2/10). Italienische Publizisten, die es wagen, im Umfeld der Mafia kriminelle Machenschaften zu recherchieren, erhalten Morddrohungen und benötigen Polizeischutz. Auch sonst ist in Italien einiges anders als in der übrigen Europäischen Union. So besitzt das Imperium der Familie Berlusconi nicht nur die meisten privaten Radio- und Fernsehsender. Als Regierungschef übt Silvio Berlusconi auch noch die Kontrolle über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk RAI aus. Weil er zudem mehrere Zeitungen verklagte und neue die Berichterstattung beschränkende Gesetze plant, blicken Menschenrechtler und Medienorganisationen skeptisch auf die Entwicklungen im Land. Im Oktober 2009 demonstrierten in Rom 100.000 Menschen gegen Gefährdungen der Pressefreiheit – darunter zahlreiche Journalisten und Gewerkschafter. Besorgniserregend sind die Beschränkungen in Europa für den Generalsekretär von „Reporter ohne Grenzen“ (ROG), Jean-François Julliard, auch aus einem anderen Grund. „Wie“, so fragt er sich, „kann man Verstöße gegen die Pressefreiheit in der Welt verurteilen, ohne sich auf dem eigenen Territorium vorbildlich zu verhalten?“
Anlass zur Kritik bieten auch manche Entwicklungen in Deutschland. So wurde der erfolgreiche Versuch der CDU, den Vertrag von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender nicht zu verlängern, auch international kritisch kommentiert. Ebenso wurde das Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung von Journalistenverbänden im In- und Ausland abgelehnt, bevor es vom Bundesverfassungsgericht am 2. März als grundgesetzwidrig verworfen wurde. Die dju in ver.di sah in dem Urteil „einen wesentlichen Schritt zur Sicherung von Datenschutz und der Grundlagen der Pressefreiheit.“ Gerade im Hinblick auf die massiv beeinträchtigten Rechte der Medien und ihrer Beschäftigten auf Zeugnisverweigerung und Informantenschutz sei die verdachtsunabhängige umfassende Vorratsdatenspeicherung nicht hinnehmbar. Nach Ansicht der dju als auch der ROG sowie einer Reihe anderer Organisationen und Verbände in Deutschland sollte die Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat auch auf EU-Ebene erneut überprüft werden.