Darf das Fernsehen alles zeigen?

Volkssport Voyeurismus – Ein Streitgespräch

Die Fernsehserie „Big Brother“ macht Überwachung rund um die Uhr zum Fernsehereignis. In der Endemol-Show „Gefesselt“ werden fünf Kandidaten tagelang aneinander gefesselt. Darf das Fernsehen alles zeigen?

Darüber stritten in der hannoverschen Marktkirche NDR-Intendant Jobst Plog, Talkshowmoderator Jörg Pilawa, Axel Beyer, Programmdirektor von Endemol Deutschland, und die Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche, Johanna Haberer. Wir dokumentieren die Debatte auszugsweise.

Was ärgert Sie an der Sendung „Big Brother“?

Johanna Haberer: Wir erwarten von unserer Gesellschaft, dass sie Grundfreiheiten schützt – das Recht, dass wir hingehen können, wohin wir wollen, das Recht auf eine Privatsphäre. Hier gibt es einen öffentlichen Schauplatz, wo Menschen diese Rechte freiwillig aufgeben.

Axel Beyer:Der Verweis auf Orwells Vision „1984“ war ironisch, unsere Sendung ist anders. Hier kann jeder der Überwachung entrinnen. Er muss nur die Tür aufmachen und ist weg.

In einer ähnlichen Show in Schweden nahm sich ein Kandidat das Leben.

Beyer: Dieser Kandidat war ohnehin leider suizidgefährdet. Das hätte man vielleicht vorher herausfinden können. In Schweden hat man die Kandidaten nicht mit so aufwendigen psychologischen und medizinischen Tests ausgewählt wie bei uns. Aus solchen tragischen Vorkommnissen lernt man ja auch.

Haberer: „Big Brother“ widerspricht zutiefst dem christlichen Bild von Gemeinschaft. Wir wollen unbequeme Menschen integrieren und nicht rausschmeißen.

Jörg Pilawa: Die Kandidaten inszenieren sich selbst, sie wissen genau, was sie tun. Die erste Aussteigerin Despina sagte danach, sie wollte berühmt werden, und das habe sie erreicht. Schaden hat sie nicht genommen.

Jobst Plog:Hundert Tage im Licht der Öffentlichkeit zu sein, dazu die Prämie von einer Viertelmillion Mark, das sind unglaubliche Versuchungen. Das macht dieses Experiment so hoch riskant. So etwas wird es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht geben. Das Grundrecht der Menschenwürde ist nicht verfügbar, auch wenn jemand sich seine Würde nehmen lässt.

Machen Sendungen wie „Big Brother“ uns alle zu Voyeuren?

Beyer: Voyeurismus ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wir machen Unterhaltung. Es gibt viele negativ besetzte Eigenschaften wie Schadenfreude, denen widmen sich lustvoll Programme wie „Verstehen Sie Spaß?“. Warum auch nicht?

Plog:Eine gewisse Neugierde ist normal und wird in vielen Sendungen positiv bedient, etwa mit Reportagen über ferne Länder. Das Bedürfnis, in fremde Schlafzimmer gucken, müssen wir nicht fördern. Bei den zutiefst menschlichen Eigenschaften könnten wir doch auch mal an Mitleid und Nächstenliebe denken. In meiner Zeit als ARD-Vorsitzender hat es eine Riesendiskussion um Reality TV gegeben. Damals haben wir an die Wirtschaft appelliert, in diesem Gewaltumfeld nicht mehr zu inserieren. Heute ist von Reality TV nicht mehr die Rede.

Wie geht es nach „Big Brother“ weiter – kommt jetzt Fessel-TV?

Beyer:Wir werden sehen, ob deutsche Sender das übernehmen. Der Begriff Fessel-TV ist allerdings genauso irreführend wie das Wort Sklaven-TV für Big Brother.

Wie nennen Sie es?

Beyer:Spannendes Fernsehen. Es gibt Wellen in der Fernsehunterhaltung. Wir haben lange weichgespülte Sendungen gehabt wie die Traumhochzeit. Der Ton ist aggressiver geworden. Jetzt ist die Zeit der Bosheiten.

Herr Pilawa, in Ihrer täglichen Talksendung geht es um Themen wie „Im Bett bist du ’ne Niete“ oder „Blöde Kuh, lass endlich meinen Freund in Ruhe“. Wollen Sie Leute auf die Anklagebank setzen?

Pilawa: Langzeitstudien über Talkshows zeigen, dass 80 Prozent der Gäste ihre Teilnahme auch lange danach nicht bereuen. Säßen sie wirklich auf der Anklagebank und würden am nächsten Tag im Supermarkt schräg angeguckt, wäre das nicht so. Wir bekommen jede Woche körbeweise Post von Leuten, die ihr Problem darstellen wollen.

Haberer: Es ist positiv, dass Talkshows Themen aufgegriffen haben, über die man bis dahin lieber geschwiegen hat, dass jemand zum Beispiel schwul ist. Leider wird vieles zerredet.

Pilawa: Eine Frau hat bei mir gesagt, mein Mann liebt mich nicht mehr. Wir sind seit 25 Jahren verheiratet, er bringt mir keine Blumen mehr mit, er küsst mich nicht mehr. In der Woche darauf bekam ich Hunderte von Briefen von Frauen, die dasselbe beschrieben. Endlich können sie darüber sprechen, weil sie wissen, sie sind nicht allein.

Einer ihrer Gäste bekannte, er gehe öfters zu Prostituierten, was seine Frau nicht wisse. Wenn sie aus Ihrer Sendung erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, würde Ihnen das leid tun?

Pilawa: Ihrem Mann war es ein Anliegen, in die Öffentlichkeit zu gehen. Er lebt die Ehe nur noch als Zweckgemeinschaft, sie ist kaputt. Ich bin nicht die moralische Instanz zu werten, ob ich diese Ehe zerstört habe. Die Gesellschaft bekommt das Fernsehen, das sie verdient. In meiner Talkshow erzählte eine Frau, dass sie von ihrem Ehemann seit sechs Jahren geschlagen wird. Da frage ich mich als Christ, wo hat die Kirche versagt, dass diese Frau nicht mehr in die Gemeinde geht, sondern in meine Sendung?

Haberer: In Ihrer Sendung wird man beklatscht, ob meine Wohnung ein Saustall ist oder ich einen Putzteufel habe. Da sind die Kirchen anders, weil sie Maßstäbe liefern, und das ist unmodern.

Plog:Wir haben mal geglaubt, das Fernsehen könne dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft positiv entwickelt. Da waren wir nicht nennenswert erfolgreich. Aber es war ein Ansatz, der auf mehr Menschlichkeit zielte. Der Satz, die Gesellschaft bekomme nun das Fernsehen, das sie verdient, ist ungeheuer resignativ.

Beyer:Die bessernde Wirkung, die man sich vom Fernsehen versprochen hat, war aber eine Illusion. Schon Schiller ist mit dem Theater als moralischer Instanz gescheitert.


  • Dokumentation: Thomas Hestermann
nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Von Erbsensuppe und neuen Geschichten

„Vielfalt schützen, Freiheit sichern – 40 Jahre duale Medienordnung im föderalen Deutschland“. Dies war das Thema des Symposiums, das am 23.  April in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Ausrichter war die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM).  Teilnehmer waren Verantwortliche aus Medienpolitik und -wissenschaft, Rundfunkregulierung und Medienunternehmen.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »

ARD-Krimis werden barrierefrei

Untertitelung, Audiodeskription, Gebärdensprache – das sind die so genannten barrierefreien Angebote, die gehörlosen oder extrem schwerhörige Fernsehzuschauer*innen gemacht werden. Die ARD sendet fast alle neu produzierten Folgen ihrer Krimireihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ auch mit Gebärdensprache. Beide Reihen seien „die ersten und aktuell die einzigen regelmäßigen fiktionalen Angebote mit Gebärdensprache in der deutschen Fernsehlandschaft“, erklärte die ARD.
mehr »

Schlaffe Tarifangebote bei der ARD

Programmeinschnitte, Sparmaßnahmen und minimale Tarifangebote der ARD. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kritisiert die Haltung der Sender und kündigt Proteste an. Im Rahmen der Tarifverhandlungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk habe es zwar erste Angebote vom Bayerischen Rundfunk (BR) und vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) gegeben. Die Angebote blieben aber laut ver.di weit hinter den berechtigten Forderungen der Mitglieder zurück. Sie liegen auch weit unter den Tarifabschlüssen anderer Branchen oder dem öffentlichen Dienst.
mehr »