Dramaturgie nur beim Spielfilm?

Klage gegen Halbierung eines Dokfilm-Klassikers in erster Instanz gescheitert

Der Film „Ein Jahr, Schlacht um Berlin“ gilt als Klassiker. Er lief über Jahre in den (west)deutschen Kinos, wurde im Fernsehen, zuerst 1970 vom WDR, ausgestrahlt, erhielt nationale Auszeichnungen und die Einstufung „besonders wertvoll“. Die englischsprachige Fassung wurde 1973 in der Kategorie abendfüllender Dokumentarfilm für den „Oscar“ nominiert. Noch heute kann man den Film als Videokassette oder neuerdings als DVD erwerben. So, wie er 1969 bei der Chronos Film GmbH gemacht worden ist: In Schwarzweiß, 80 Minuten lang, mit „Das Jahr 1945“ untertitelt. Der SFB zeigte den Film 2002 in einer halbierten Fassung. Die Justiz sieht darin keine „gröbliche Entstellung“.

Der Streifen beginnt mit Aufnahmen des 111. Bombenangriffes im Jahre 1944 auf Berlin, der den Hauptstädtern statt Glocken das letzte Kriegs-Silvester einläutete, und endet mit Bildern vom Weihnachtsmarkt 1945, dem wohl ärmlichsten in der Geschichte Berlins – aber einem friedlichen, wie es im Kommentar heißt. Das Konzept des Films, so erläutert Regisseur Franz Baake, habe gerade darin bestanden, den Bogen über das gesamte Jahr 1945 zu spannen, neben Bombenangriffen, späteren Häuserkämpfen, der Kapitulation und nachfolgender Lähmung auch den Neubeginn mit den Trümmerfrauen, der ersten Straßenbahn, dem Gemüsebeet zwischen Ruinen und der Errungenschaft Schulspeisung zu zeigen. Für den Film, der in der TV-Fassung „Berlin – Stunde Null“ hieß, sichteten die Autoren in mehrjähriger Arbeit 20 000 amerikanische, englische, französische, deutsche und bis dahin unveröffentlichte sowjetische Filmmeter. 700 Berliner haben durch Amateuraufnahmen und andere Dokumente zu einem zeitgeschichtlich exakten Protokoll vom Kapitulationsjahr 1945 beigetragen. Hätte die Darstellung jedoch bei Kriegsende, mit Hitlers Selbstmord und der roten Fahne über dem Reichstag geendet und nicht zugleich den zaghaften Neubeginn beleuchtet, wäre sein Film „niemals für den Oscar nominiert worden“, ist Baake überzeugt.

Solche Überlegungen waren beim Sender Freies Berlin nicht maßgebend. Er strahlte „Schlacht um Berlin“ am 6. Juli vergangenen Jahres in einer 40-Minuten-Fassung aus und zeigte dabei nur die um einige Sequenzen gekürzte erste Hälfte des Films, die zur Kapitulation am 8. Mai 1945 hinleitet. Unmittelbar zuvor war im Rahmen eines SFB-Themenabends mit „Bomben auf Berlin“ von Irmgard von zur Mühlen eine 1984 entstandene Chronos-Dokumentation ausgestrahlt worden, die sich wesentlich auf gleiches Material stützt. Offenbar um Dopplungen zu vermeiden, hat der SFB die Schere bei „Schlacht um Berlin“ angesetzt. Informiert wurden die Zuschauer darüber nicht. Regisseur Baake beklagt „mangelnden Respekt“ vor seinem Werk, empfindet die Halbierung als „Verstümmelung“ und verklagte den Sender – inzwischen Rundfunk Berlin-Brandenburg – wegen „gröblicher Entstellung“ auf Schadenersatz.

Klage abgewiesen

Die Klage wurde vor dem Berliner Landgericht am 10. Juli 2003 abgewiesen. Das Gericht geht davon aus, dass Baake der Chronos GmbH das Recht zur Bearbeitung seines Films eingeräumt habe. Diese ihrerseits hätte dem SFB umfassende Nutzungsrechte, auch zu Kürzungen, übertragen. Darüber hinaus wird inhaltlich argumentiert. Die 16. Zivilkammer sieht die Halbierung nicht als gröbliche Entstellung, da sie keine „völlige Verkehrung des ursprünglichen Sinngehalts des Filmwerks oder eine völlige Verunstaltung von urheberrechtlich wesentlichen Teilen des Film“ darstelle. Auch eine erhebliche Beeinträchtigung der Dramaturgie sei nicht gegeben, da „dramaturgische Effekte bei Dokumentarfilmen nicht die Bedeutung haben (dürften), die ihnen regelmäßig bei Spielfilmen zukommt“. Die Kammer kommt zu dem Schluss, dass „der Film aufgrund seiner chronologischen Ordnung teilbar ist und in dieser Teilfassung seinen ursprünglichen Sinngehalt nicht verliert“.

Anfang plus Ende

Mit Blick auf die gesamte Filmhistorie hält der Berliner Regisseur Thomas Schadt, Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg, eine solche Deutung für „fachlich falsch“. Eine durchlaufende Dramaturgie sei bei Dokumentarfilmen „genauso maßgeblich wie bei Spielfilmen“. Dramaturgie beim Medium Film beziehe sich auf den Anfang wie auf das Ende und erzeuge beim Zuschauer Emotionen und Intensität. Die seien „nicht mit Informationen wie etwa in der Reportage“ zu verwechseln. Und: „Zeitlich teilen kann man auch Alfred Hitchcocks ‚Psycho‘. Doch wer käme auf die Idee, den nach dem Duschmord enden zu lassen?“ Ähnlich im vorliegenden Fall. „Halbiert man ‚Schlacht um Berlin‘ bei Kriegsende, zeigt man den mühsamen Neuaufbau nicht, nimmt man dem Zuschauer die Chance, den Filmanfang mit dem Gefühl des Endes zu sehen, die Bilder viel intensiver in Erinnerung zu behalten“, meint der Fachmann. Ob das Urteil juristischen Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Franz Baake geht mit ver.di-Rechtsschutz in Berufung.


Paragraph 93 Urheberrechtsgesetz bestimmt, dass Urheber von Filmen bei der Herstellung und Verwertung ihrer Werke „nur gröbliche Entstellungen oder andere gröbliche Beeinträchtigungen“ verbieten können. Nach Ansicht der Berliner Zivilkammer könne von „gröblich“ im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Dafür müssten die Interessen des Urhebers (§ 14 UrhG) „nämlich in besonders starker Weise verletzt sein“.

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