Eine neue Generation begehrt auf

Der junge Dokumentarfilm zwischen Ausbildung und Markt im Kölner Filmhaus

Beim Symposium „Der junge Dokumentarfilm – Zwischen Ausbildung und Markt“, das Juni im Kölner Filmhaus stattfand, veranstaltet von der Dokumentarfilminitiative Mühlheim / Ruhr und dem Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart, protestierte der Nachwuchs energisch gegen verstaubtes Traditionsfernsehen der öffentlich-rechtlichen Sender.

Es war kein Sturm im Wasserglas, den die Absolventen der Film- und Fernsehhochschulen in Köln veranstalteten. Vor vollem Saal widerlegten sie sichtbar das vom Fernsehen geprägte Bild einer angepassten Jugend im Spass- und Kommerztaumel. Mit ihren Filmen demonstrierten sie unmissverständlich: Die neue Generation der Dokumentarfilmer interessiert sich wieder für Politik und Gesellschaftskritik. Sie begreifen Geschichte wieder als spannendes Kapitel mit Bezug auf die Gegenwart, und zwar im Theodor Lessingschen Sinn „als Sinngebung im Sinnlosen“. Da ist etwa Christiane Büchners ambitionierter Dokumentarfilm „Das Haus der Regierung“, der das Leben in einem Wohnkomplex in Moskau schildert, der Ende der zwanziger Jahre für die Partei- und Staatselite gebaut wurde. Verfolgte und Täter der Stalin-Ära schildern im Film in schonungsloser Offenheit die Ausmaße einer menschenentwürdigenden Diktatur. Oder Stefan Landorfs entlarvender Film „Aufnahme“ über Ärzte im Krankenhaus, der diese einmal nicht als Götter in Weiß zeigt. Sondern als Berufsstand, der im monotonen Ablauf zwischen durchorganisierter Großküche, Bettendesinfektion und Abfallbeseitigung festgefahren zu sein scheint, in dem Patienten als Behandlungsgegenstände gedacht werden. Doch sind sie nicht als seelenlose Autoritätsfanatiker dargestellt. Sensibel zeigt der Film auf, wie Ärzte gegen die eigene Angst vor Krankheit und Tod ankämpfen.

Till Passows „Howraw Howrah“ thematisiert, wie im Bahnhof Kalkuttas verschiedene Gesellschaftsschichten drastisch aufeinander prallen: Gutsituierte Reisende, freundlich Abschied nehmend von Angehörigen. Indes angeln zerlumpt gekleidete Jungs in einer Kloake zwischen den Gleisen Fische, um etwas zwischen die Zähne zu kriegen. Mitten im Gewimmel, zwischen all diesen Gegensätzen, wird anonym gestorben. An dem in eine Decke gewickelten Leichnam rennen gleichgültig Menschen vorbei, ehe er Stunden später entdeckt wird.

Platz für Hoffnung

Nicht immer haben die Filme der jungen Autoren soziale oder politische Anliegen, doch meist steht lebensphilosophische Weisheit dahinter. Das beste Beispiel dafür ist Jan Bosses zärtlicher, verträumter Film „Himmelreich“ über Dauercamper. Im Kopf sei ihm und seinem Filmteam stets der Satz Thomas Manns gewesen: „Das was bleibt, ist die Achtung vor dem Geheimnis des Anderen“. Und: Wenn Realität und Traum im dokumentarischen zusammenlaufen, sei wieder Platz für Hoffnung. Für die Hoffnung, über das Leben jenseits von Zynismus zu erzählen.

Der Trend ist eindeutig: Die jungen Filmemacher, zwischen 27 und 35 Jahren, machen deutlich, dass eine neue Generation von jungen Leuten heranwächst. Eine, die sich zu politischen Organisationen wie Attack und Kanack Attack hingezogen fühlt, die sich nicht globalisierten Marktverhältnissen unterwerfen will, in dem nur Kommerz zählt.

Doch sie werden es nicht leicht haben. Einerseits werden sie sich individuell auf einem konkurrenten und überfüllten Markt durchsetzen müssen. Andererseits dafür kämpfen müssen, anspruchsvolles Fernsehen, dass den Verfassungsauftrag auf Information und Kultur wahrnimmt, wieder populär zu machen. Denn auf viel Verständnis stießen sie bei den Sendeverantwortlichen nicht. Bei deren Podiumsdiskussion herrschte ein weitgehend resignativer Tenor vor. Der gute, alte Autorenfilm wurde für mausetot erklärt, bestenfalls noch als elitäres Nischenprogramm tauglich. Stattdessen war die Rede von der „Marktfähigkeit von Autoren“, der Notwendigkeit, sich wirtschaftlichen Zusammenhängen zu beugen. Der althergebrachte Begriff der Einschaltquote im Sinne von Zuschauerdemokratie wurde beschworen. Junge Autoren seien gefordert, mit Produzenten zu arbeiten, um den neuen Anforderungen zu entsprechen. Freilich könne man sich gegen den Trend serieller und formatierter – und somit einschränkender – Formen des Dokumentarfilms wehren, aber kommen werde er doch, so begegnete Peter Latzel (Abteilungsleiter Kultur und Gesellschaft SWR) der Palastrevolte der jungen Dokumentarfilmer.

Solch ernüchternde Argumente quittierten die jungen Filmautorinnen und -autoren mit unwilligem Gemurmel. Und doch war die desillusionierende Wirkung unübersehbar. Saßen doch auf dem Podium just jene Redakteure und Produzenten, die besagte Nischenprogramme gestalten: Claudia Tronnier (stellvertretende Redaktionsleiterin, Das kleine Fernsehspiel, ZDF), Werner Dütsch, (Filmredaktion WDR), Thomas Kufus (Produzent Zerofilm Berlin), Michael Wiedemann (Geschäftsführer, Filmbüro Mühlheim / Ruhr).

Folgen von Quotendruck

Die herausfordernde Frage Herbert Schwerings, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kunsthochschule für Medien in Köln, wie Filmhochschulen den zuständigen Redakteuren helfen könnten, Sendeplätze des anspruchsvollen Dokumentarfilms vor dem drohenden Untergang zu bewahren, blieb unbeantwortet. Stattdessen wurde weiter Wasser in den Wein gegossen: Ein Überangebot an Autoren gebe es. „Auf eine Zusage, schreibe ich zehn Absagen“, so Dütsch.

Doch die jungen Dokumentarfilmer ließen sich nicht einschüchtern. Torsten Truscheit etwa schilderte aus eigener Erfahrung – am Beispiel der von ihm bearbeiteten 12-teiligen ZDF-Doku-Serie „Junge Herzen – Auf großer Fahrt ins Leben“ – plausibel, welch fatale Folgen eingepresstes Arbeiten in serielle Formate und unter Quotendruck zeitigen kann. Von der ZDF-Redaktion sei ein Marktforschungsinstitut eingeschaltet worden, das 40 junge Leute einige Folgen seiner Segeltörn-Serie probeschauen ließ, berichtete Truscheit. Die Testpersonen seien nach spezifischen Kriterien ausgewählt: Konsumenten von Jugendserien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, Samstags von 15 bis 18 Uhr vor dem Fernseher und auch ansonsten mindestens drei Stunden pro Tag.

Das Resultat sei entsprechend niederschmetternd gewesen. Nicht mehr der Inhalt, „wonach das gedrehte dokumentarische Material förmlich schreit“, habe im Schneidestudio eine Rolle gespielt. Vielmehr sei die Dokumentationsreihe fiktiven Regeln eines Spielfilmformats unterworfen worden. Auf diese Weise sei eine weitgehend geglättete Fassung über die Reise der jungen Menschen entstanden, die der junge Autor sieben Monate auf dem Schiff begleitete. Moniert worden sei etwa, die Protagonisten des Films seien nicht hübsch genug, es habe zu oft geregnet.

Die Marktforschung zur Absicherung der Quote habe weitere praktische Folgen gehabt. So habe er etwa eine Film-Sequenz herausschneiden müssen, in der eine junge Frau einem Reisenden begegnet und flirtet. Nach seinem Reiseziel befragt, habe dieser von Auschwitz berichtet. Abrupt sei daraufhin der Flirt beendet, die Gesichtszüge der Frau seien wie erstarrt gewesen. Die Begründung, warum die Szene im Film nicht erscheinen dürfte: Kein Happy-End, keine Kontinuität der Beziehung, Auschwitz muss offenbar für das Zielpublikum nicht als attraktives Thema gegolten haben. Thomas Schadt, Leiter der Filmakademie Baden-Württemberg, spitzte zu: Redakteure gingen unter den neuen Bedingungen seriellen Produzierens vermehrt dazu über, junge Autoren brechen zu wollen, ihren Charakter zu verbiegen.

Rebellische Worte gegen den Quotenwahn in den Sendern, sprach Saskia Walker, Studentin der Kunsthochschule für Medien in Köln, und erntete begeisterten Applaus ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen: „Wird eigentlich bei der Quote miteinkalkuliert, dass der Fernsehzuschauer eventuell im Nebenraum telefoniert, während der Fernseher läuft?“, fragte die junge Filmautorin. Und redete Tacheles: Die Programmverantwortlichen vermittelten zunehmend den Eindruck, als sei das Fernsehen eine Institution, die vom Himmel gefallen und nicht mehr veränderbar sei. „Klüngelstrukturen“ herrschten, in denen sich nichts mehr bewege. Fernsehredaktionen entmutigten zunehmend junge, fortschrittliche Dokumentarfilm-Autoren, die in ihrer Ausbildung kunstvolle Filme zu kreieren lernten, verlangten ihnen Formate ab, die unter Niveau seien. Langweilig sei dies, Spaß mache es auch nicht, resümierte Walker.

Initiative „Doku-Tanic“

Es wird sich zeigen, ob zivilcouragierte Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Sendern diesen neuen Trend zum Anlass nehmen, endlich ihrer ursprünglichen Aufgabe wieder nachkommen, den Verfassungsauftrag für Information und Kultur zu erfüllen. Nicht ab 23.00 Uhr, sondern ab 20.15 Uhr. Anzeichen dafür waren im vergangenen Jahr noch zu registrieren. Die verantwortlichen Redakteure für Dokumentarfilme hatten zur Initiative „Doku-Tanic“ aufgerufen, um dem Untergang des Genres gemeinsam etwas entgegenzusetzen. Die Initiative scheint allerdings derzeit wieder eingeschlafen. Doch einen langen Dornröschen-Schlaf kann sich keiner erlauben. Denn jene Kräfte, die auf die Quote nach dem Möllemann-Prinzip schielen, um Stammtischhoheiten zu erobern, sind im Fernsehen unaufhaltsam auf dem Vormarsch.

 

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