Streetworker auf dem Datenhighway

ver.di-Innovationsprojekt connexx.av wird zehn Jahre alt

Geplant waren drei, dann sechs Jahre. Inzwischen fungiert connexx.av seit einem Jahrzehnt als Modell für moderne Gewerkschaftsarbeit, gilt gar als eines der größten Innovationsvorhaben deutscher Gewerkschaftsgeschichte. Unkonventionell, kreativ, nicht selten kritisch beäugt, infiltriert das ver.di Projekt Branchen, die gewerkschaftlichem Einfluss eher abhold sind: privater Rundfunk, audio-visuelle Medien, Film- und Fernsehproduktionen und Internetwirtschaft.


„Ist ja toll, Ihr kommt extra wegen uns?!“ Etwas ungläubig gehen Filmbeschäftigte auf den ver.di Karren zu, an dem Säfte und Infos angeboten werden. Mehrere Septembertage lang zogen „connexxianer“ ihren selbstgebauten Wagen von einem Berliner Filmset zum anderen, darunter eine Ziegler-Produktion, Drehs für „Ein starkes Team“ und einen Spielfilm. „Wir waren leicht nervös, denn unsere Aktion an solch sensiblen Orten war ein Experiment“, bekennt Kathleen Eggerling von connexx.av Berlin. „Drehorte haben wir undercover erkundet. Nur in den Pausen konnten wir mit den Filmleuten reden. Sie sind während der Drehs sehr angespannt, haben oft einen völlig verschobenen Tagesablauf, essen auch mal um 22 Uhr zu Mittag. Sie identifizieren sich in hohem Maße mit ihrer Produktion, ihrem Unternehmen, akzeptieren nicht selten klaglos eine 72 Stunden Woche und stehen zudem unter großem Konkurrenzdruck.“
Einige schüttelten dann auch den Kopf: Was brauchen wir ver.di? Viele aber zeigten sich interessiert und überraschend kundig, findet connexx.av-Projektleiter Wille Bartz. Sie ließen sich für den ver.di Newsletter eintragen, wussten von der „5 statt 12“-Aktion zu Anrechnungsmonaten fürs Arbeitslosengeld, hatten zahlreiche sozialrechtliche Fragen. Auch am Kanzleramt und am Brandenburger Tor war das so. Dort suchten die connexx-Leute den Kontakt mit dem Personal für die Fernsehübertragungen zur Bundestagswahl.

Ohne Arbeitskampfparolen mit umwerfendem Charme

Wenn es auch nicht zu Masseneintritten in die Gewerkschaft kam: „Letztlich war das Pilotprojekt Filmset – unser Einstieg in eine suggerierte Glitzerwelt, in der Gewerkschaft üblicherweise ein Unwort ist – ein Riesenerfolg“, wertet Bartz. „Wir werden an anderen Filmstandorten weitermachen.“ Unkonventionelles Vorgehen in einer traditionell auf Arbeitskampf ausgerichteten Organisation zeichnet das Innovationsprojekt aus. „Arbeitskampfparolen greifen in einem gewerkschaftsfeindlichen Umfeld nicht“, schätzt connexx.av Mitbegründer Peter Völker ein. „Und Polarisieren ist der falsche Weg“, meint Wille Bartz.
Völker, einst IG Medien Bundesgeschäftsführer für Rundfunk und Film, dazu Manfred Moos vom Hauptvorstand, Gerd Nies, stellv. Vorsitzender der IG Medien und bis 2003 auch von ver.di, sowie Eberhard Kügler-Schmidt von der DAG hatten die Idee. Sie nannten das Kind connexx.av – „übrigens ein reiner Fantasiebegriff, der Kommunikation und Modernität suggerieren sollte.“ Kügler-Schmidt, so ist in der Broschüre zum 5. connexx-Geburtstag zu lesen, „musste den kompletten DAG Vorstand davon überzeugen, noch vor ver.di Gründung Geld für ein Projekt locker zu machen, das organisatorisch weitgehend an die IG Medien angebunden war. Sein Charme muss umwerfend gewesen sein.“
Bis dahin hatten IG Medien und DAG nahezu erfolglos versucht, Mitglieder bei privaten Rundfunksendern zu werben, Betriebsräte zu gründen oder wenigstens Ansprechpartner zu gewinnen. Losgelöst von regionalen und branchenbezogenen Strukturen, ungeachtet alter Ressentiments beider Gewerkschaften etablierten die Gründer 1999 das Projekt an Standorten in Hamburg, München, Köln und Berlin. Frankfurt am Main kam später hinzu.
Wille Bartz löste sich aus einem beruflichen „Patchwork-Lebenslauf“, der ihn vom Germanistik- und Geschichtsstudium über das Zwischenspiel bei einer Punkband zur Rundfunkproduktion und dort zur Betriebsratsarbeit führte. Er übernahm die Leitung von connexx.av.
„Es lief nicht gleich ohne Schwierigkeiten als gemeinsames Projekt“, erinnert sich Gerd Nies. „Ein gewisser Widerstand in den Organisationen hemmte auch. Vor allem im Raum Köln wurde das Innovationsvorhaben nicht richtig unterstützt.“ Dennoch, so sieht er es heute: „Es war insgesamt der richtige Schritt für ver.di.“
Was der Organisation noch bevorstand, testete connexx.av bereits aus. Neue Wege mussten gefunden, Beschäftigte aus weitgehend gewerkschaftsfremden Branchen in der ihnen vertrauten Sprache angesprochen werden. connexx.av hat experimentiert, Diskrepanzen abgebaut und diese Erfahrungen in die Fusion zur Großgewerkschaft eingebracht.
Völker plaudert aus dem Nähkästchen: Wie durch einen logistischen Trick 1.500 E-Mail-Adressen von Pixel-Park Beschäftigten europaweit mit einem „Letter of Trade Union“ beschickt wurden, auf den mehr als 500 Rückmeldungen kamen – überwiegend zustimmende, mit Fragen, Problemen, Vorschlägen. Auf dieser kommunikativen Basis aufbauend, konnte 2001 mitten in der platzenden New Economy Blase der erste Betriebsrat in einem Internetunternehmen gegründet werden – zugleich der vielbeachtete Durchbruch von connexx.av. Medien entdeckten die Gewerkschaft neu, versahen die connexx-Leute mit Etiketten wie „Streetworker auf dem Datenhighway“ oder „dynamische Manager, statt Gewerkschaftsfunktionäre alter Schule“, das Projekt selbst mit dem eines „Arbeitnehmer-ADAC“.
Große Durchbrüche, kleine Schritte und auch Niederlagen, all das gehört zur connexx-Geschichte. Den misslungenen Versuch, bei e-bay 2005 einen Tarifvertrag durchzusetzen, bucht Bartz in die Negativspalte. „Für unser übliches Vorgehen, eine Kerngruppe im Unternehmen zu bilden, Vertrauensleute hinzu zu ziehen und ein Klima für gewerkschaftliche Organisierung zu schaffen, haben wir uns nicht genug Zeit gelassen. Wir haben die Leute bei e-bay zu sehr unter Druck gesetzt, einen Betriebsrat zu gründen und einen Tarifvertrag durchzusetzen. Das ging schief.“ Die Lehre daraus hat Bartz verinnerlicht: „viel mehr auf die Resonanz im Unternehmen zu achten, sehr genau hinzuhören und hinzusehen.“

Spuren legen

„Ja, wir wollten Spuren legen“, sagt Angela Kluncker, erfahrene Ex-Betriebsrätin und ehrenamtliche Seminar-Teamerin, fast von Anbeginn Projektassistentin bei connexx.av. „Das ist größtenteils auch gelungen.“ Vernetztes Team, vernetztes Arbeiten, vernetzte Technik, ein durchgestylter Auftritt – vor zehn Jahren keine Selbstverständlichkeit. Weder Technik noch Organisationsformen von DAG und IG Medien passten ursprünglich zusammen. Es gab keinen gemeinsamer Datenzugriff, keine gemeinsamen Adressbücher, keine für alle connexxianer zugänglichen Terminplaner, die Software war komplett inkompatibel. Dennoch sollten die Mitglieder bei einem Anruf in Hamburg nicht davon irritiert sein, dass man sie vielleicht vom Münchner Büro aus beriet. Die schnelle und unbürokratische Beantwortung von Anfragen und Wünschen und das flexible Herangehen wurden in späteren Umfragen ausdrücklich gelobt.
Damit alle mit Gemeinschaftsgeist und auf gleichem Wissensstand arbeiten können, werden regelmäßige Teamtreffen und zweimal jährlich eine Klausur veranstaltet. „Kastendenken wurde von Anfang an ausgeschlossen“, erinnert sich Angela Kluncker. „Manchmal fühlen sich Verwaltungsangestellte wie ich abgetrennt von Entscheidungsprozessen. Bei connexx.av war das von Anfang an anders. Ich bin immer dabei, kann meine Erfahrung und Meinung einbringen.“

Stammtische und Medienbrunch

Nur bezugsgruppenspezifische, auf lokale Bedürfnisse zugeschnittene Konzeptionen sind erfolgreich, konstatierte Ralf Steinle bereits 2005 zur Auswertung einer wissenschaftlichen Analyse des Innovationsprojektes durch Sozialforscherin Hanna Knorr. Dieses connexx-Prinzip zeitigte Erfolge. Stammtische wurden ins Leben gerufen, an denen sich Film- und Medienleute ungezwungen treffen. Lange Zeit war die MA-Party, die Fete am Tag nach der Media-Analyse für die Radiosender, ein Anziehungspunkt. Auch der sonntägliche Branchenbrunch an besonderen Orten mit Zeit für gemütliche, ausgiebige Gespräche kam gut an.
Nicht alles hat überlebt. Immer wieder müssen Konzepte auf ihre Tragfähigkeit hin abgeklopft und, wenn nötig, aktualisiert oder verworfen werden. So wird der Berliner Stammtisch jetzt gemeinsam mit den Journalistenkolleginnen und Kollegen der dju veranstaltet – Synergieeffekte in einer medial mehr und mehr vernetzten Welt, in der sich die Probleme ähneln: Arbeits- und Auftragssituation in freien Berufen, Absicherung während arbeitsloser Zeiten, Interessenvertretung und Einflussnahme. Auch die Seminar- und Gesprächsangebote sind offen gehalten, richten sich nach den Wünschen der Teilnehmenden. Flexibilität hat sich als das A und O erwiesen. Dabei hat es auch das Team kräftig durchgerüttelt. Einst zählte connexx.av 16 Beschäftigte, jetzt sind es neun. Viele, die beim Innovationsprojekt gestartet sind, haben später anderswo Karriere gemacht, ausgerüstet mit den Erfahrungen einer spannenden Zeit.
Inzwischen ist connexx.av an den Standorten Hannover, Köln, Frankfurt am Main, München, Leipzig und Berlin mit den ver.di Strukturen verwoben. Das kann einerseits als Reaktion auf die Kritik aus der Analyse 2005 gewertet werden, in der das unpräzise formulierte Verhältnis zu ver.di und ein unscharfes Leistungsprofil von connexx.av bemängelt wurden. Zum anderen ist die Arbeit anders nicht zu schaffen. Denn was früher als Problem aufgerissen und weitergereicht werden konnte, wird heute vor Ort bearbeitet. „Das volle Programm“, wie Wille Bartz sagt. „Wir sind längst nicht mehr das kleine Schnellboot.“ Der Verquickung von privaten Unternehmen, öffentlich-rechtlichem Rundfunk, Film- und Fernsehproduzenten mit vielfältigen neuen Problemen muss Rechnung getragen werden. Aus dem aktuellen Aufgabenkatalog seien – willkürlich – die Unterstützung für Beschäftigte des Bayrischen Rundfunks, des MDR in Leipzig, bei Wiesbaden Enterprise oder ein Projekt beim WDR genannt. Ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen sollen künftig weitaus stärker in die Arbeit eingebunden werden.

Klar sind wir ver.di

connexx.av fungiert – und das verwirrt ein wenig – seit 2004 als GmbH mit eigenem Leistungsprofil und ständig aktualisierten Serviceangeboten nicht nur für Mitglieder. Dabei ist connexx.av eine 100prozentige ver.di Tochter geblieben, denn allein kann sich das Projekt trotz geänderter Rechtsform nicht tragen. „Wenn es je das Gefühl gab, wir sind was anderes, verschwindet das“, beschreibt Bartz einen gewissen Zwiespalt. „Wir haben unsere eigenen Sichtweisen entwickelt, uns aber immer auch ver.di zugehörig gefühlt. Wenn jemand fragt: Klar sind wir ver.di!“
Genau diesen Spagat zwischen Verzahnung und eigenständiger Wahrnehmung noch besser hinzukriegen, den Dialog zwischen Gewerkschaft und der Medienszene zu forcieren, ist Ziel von Wille Bartz bis 2011. Dann tagt der nächste Gewerkschaftskongress. Und der entscheidet, wie es mit connexx.av danach weitergeht.

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