Ungeordneter Rückzug

Verteidigungsminister Scharping hat seinen juristischen Kampf gegen einen ihn als Kriegslügner schwer belastenden WDR-Film nach nur kurzem Scharmützel aufgegeben – Über die Gründe schweigt er sich aus

Kleinlaut hat Rudolf Scharping nach nur kurzem Scharmützel den ungeordneten Rückzug angetreten. Seinen Sprechern im Verteidigungsministerium hat es regelrecht die Sprache verschlagen. Niemand will sich dort die Zunge verbrennen. „Ich habe von oben keinen Bewegungsspielraum für Erklärungen in dieser Sache“, barmt der Heer-Sprecher, Oberstleutnant Hannes Wendroht.

Geht es um den vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) am 8. Februar ausgestrahlten Kosovo-Film „Es begann mit einer Lüge“, dann werden Scharpings Beamte seltsam einsilbig. Dabei sind die Vorwürfe kein Pappenstiel, die die beiden WDR-Autoren Jo Angerer und Mathias Werth in ihrem umstrittenen Streifen erheben: Nur mit Desinformation und Propagandalügen sei die Zustimmung zum Kosovo-Krieg in Deutschland schließlich doch noch gewonnen worden, behauptet das WDR-Duo: „Dieser Film zeigt, wie Tatsachen verfälscht und Fakten erfunden, wie manipuliert und auch gelogen wurde.“

Großes juristisches Kaliber, aber …

Diese Attacken mochte Scharping nicht kampflos hinnehmen. Mit großem juristischen Kaliber ging er auf den WDR los. Der von ihm eingeschaltete Hamburger Promi-Anwalt Matthias Prinz begehrte am 2. März dieses Jahres „zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr“ eine umfängliche Unterlassungsverpflichtung des Senders. Doch die WDR-Juristen lehnten ab. Der Film wurde erneut im Regionalprogramm ausgestrahlt – ohne eine einzige redaktionelle Änderung, mit all den schwerwiegenden Vorwürfen: Anders als von Scharping behauptet, habe es kein Massaker in Rugova gegeben, kein Konzentrationslager im Stadion von Pristina, keine Zerstörung albanischer Häuser durch Kerzen und Gas, keinen „Hufeisenplan“ zur systematischen Vertreibung der albanischen Bevölkerung. Werth legte inzwischen nach: „Wir wissen, dass dieses Ding auf der Hardthöhe im Führungsstab geschrieben wurde.“

Unterlassungserklärung nicht weiter verfolgt

Dennoch hielt Scharping erstaunlich still. „Warum hat der Minister die durch die Hamburger Kanzlei Prinz dem WDR zugestellte Unterlassungserklärung nicht weiter verfolgt bzw. gerichtlich durchgesetzt?“, wollte „M“ in einer Anfrage an das Verteidigungsministerium wissen. In seiner Antwort verweist das Ministerium auf zwei uralte Bundestags-Drucksachen zum Kosovo-Krieg, in denen der juristische Streit um den WDR-Film keine Rolle spielt, und erklärte: „Darüber hinaus gehende Stellungnahmen sind nicht vorgesehen.“

Erstaunlich defensiv für einen Verteidigungsminister, der derart in die Schusslinie geraten ist. In einer zweiten Anfrage an das Verteidigungsministerium verwies „M“ ausdrücklich auf dessen gesetzliche Auskunftspflicht gegenüber der Presse und wollte wissen: „Trifft es zu, dass der Minister bis heute keinerlei juristische Schritte gegen den WDR oder die Autoren des Films angestrengt hat, obwohl der Sender den Film bereits einmal wiederholt und soeben erst weitere Wiederholungen angekündigt hat?“ Die Antwort: „Kein Kommentar“.

Umstrittene Machart

Seltsam bei diesen massiven Vorwürfen, die geradezu nach einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss schreien. Dabei ist das journalistische Strickmuster von Angerer und Werth in der Medienbranche selbst durchaus umstritten. Was der „Stern“ als „Sternstunde im deutschen Fernsehen“ lobt, ist für den „Spiegel“ „schöngeredete Apartheid“ und für die „FAZ“ „Bulldozer-Journalismus“. Für das Komitee kritischer Journalistinnen und Journalisten“ wiederum ist der aufsehenerregende WDR-Report eine „perfekte Dokumentation“, die „Scharpings Lügenberichte allesamt an Ort und Stelle überprüft“ habe.

Tatsächlich haben die WDR-Autoren an etlichen konkreten Punkten nachgewiesen, dass der Verteidigungsminister während des Kosovo-Krieges wiederholt die Öffentlichkeit getäuscht hat. „Es wurde eine Kriegslüge verbreitet“, sagt WDR-Autor Werth, „um öffentliche Zustimmung zu erzielen“. So habe Scharping auf dem Höhepunkt des Kosovokriege behauptet, dass Leute im Stadion von Pristina „wie in einem KZ“ zusammengetrieben würden. Ohne handfeste Beweise, wie die WDR-Leute bei ihren monatelangen Recherchen herausfanden. „Diese Lügen haben einen ganz bestimmten Zweck gehabt“, mutmaßt Werth, „um die Linken innerhalb der SPD zu gewinnen, um deren Erinnerungen an die Ära Pinochet in Chile wachzurufen“.

Doch längst nicht nur bei Militärs und Kriegsbefürwortern, auch bei veritablen Linken, Grünen und Menschenrechts-Organisationen hat der WDR-Beitrag massive Kritik ausgelöst. „Die Botschaft des Films läuft auf eine faktische Leugnung serbischer Kriegsverbrechen und schwerster Menschenrechtsverletzungen hinaus“, beklagt der grüne Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtweih. So hätten die WDR-Autoren die „komplizierte Realität des Kosovo-Konflikts äußerst verkürzt“ und „die Erfahrungen mit dem Gewalt- und Vertreibungsjahr 1998 völlig ausgeblendet.“

Zugespitzte Fragestellung

Ihr Film erhebe keineswegs den Anspruch, über die Gesamtsituation im Kosovo aufklären zu wollen, wehrt sich Werth. „Wir betrachten die Zeit unmittelbar vor Beginn des Krieges.“ Ausgangspunkt ihrer Recherchen sei die Frage gewesen: „Wie begann der Krieg und wie wurde er gerechtfertigt?“

Während ihrer Recherchen klang Angerer und Werth eine Aussage von Scharping während der Bundestagsdebatte am Tag des Beginns der Luftangriffe im Ohr: „Ich werde keine einzige Information nach außen geben, die nicht geprüft und nicht eingehend dokumentiert ist.“ Das WDR-Duo wollte nichts anderes als den Verteidigungsminister „an seinen Taten messen“. Mit einem verheerenden Ergebnis für Scharping.

„Widersprüchliche oder überzogene Aussagen“ von Mitgliedern der rot-grünen Bundesregierung zum Kosovo-Krieg räumt immer-hin auch der grüne Abgeordnete und Film-Kritiker Nachtweih ein. Diese hätten sich während der NATO-Luftangriffe in einem „zeitweiligen moralischen Overkill“ befunden, urteilt der Grüne.

Desinformation als Teil der Strategie

Wie die Informationspolitik der Regierenden im kriegerischen Ausnahmezustand aussieht, hat Generalmajor Walter Jertz kürzlich auf einem Symposium „Information Warfare/Information Operations“ in München enthüllt: „Wieweit die Manipulation von Daten und Informationen vertretbar ist, hängt nicht zuletzt von der Frage ab, ob durch geschickte, erfolgreiche Datenmanipulation ein Krieg verhindert oder eine bereits ausgebrochene Kriegshandlung schneller beendet werden kann.“ Für Jertz ist Informationspolitik ein fester Bestandteil der „psychologischen Kriegsführung“. Konkret heißt das für den Generalmajor: „Im Krieg selbst ergänzen oder unterstützen die gezielte Weitergabe von Informationen den Einsatz von Bomben als Mittel der Beeinflussung.“

Desinformation und Manipulation taten offenbar Not während der Luftschläge auf den Kosovo. „Ein Stimmungsumschwung bei der Bevölkerung und damit möglicherweise auch bei den politisch Verantwortlichen der beteiligten Nationen musste befürchtet werden“, wie Jertz, einer der militärischen NATO-Sprecher während der Luftangriffe, auf dem Münchner Symposium unumwunden einräumte. „Die Gefahr, die NATO-Kampfhandlungen vor Erreichen der angestrebten Ziele wegen des hohen Öffentlichkeitsdruckes einstellen zu müssen, zeichnete sich ab.“

Griff Scharping deshalb zur Kriegslüge? In der Talkshow „Christiansen“ saß der Südosteuropa-Korrespondent Elias Bierdel am 28. März 1999 „höchstens ein Meter fünfzig“ vom Verteidigungsminister entfernt, als der davon sprach, in Pristina seien Konzentrationslager eingerichtet worden. „Mir ging es nicht gut, ich war gerade aus dem Kosovo gekommen, unter sehr dubiosen Bedingungen, und ich hörte diesen Satz mit Grausen“, erinnert sich Bierdel, der jüngst mit seinem WDR-Kollegen Werth in „message“, der internationalen Fachzeitschrift für Journalismus, ein hitziges Streitgespräch über den WDR-Film führte und den Autoren vorwarf, sie hätten „mit Subtexten und manipulativen Kombinationen“ gearbeitet.

Scharpings rhetorischer Overkill

Scharpings Äußerungen gingen indes auch dem anerkannten Kosovo-Kenner Bierdel nicht in den Kopf: „Warum spricht ein deutscher Minister von einem KZ? Mir wäre so ein Satz niemals eingefallen. Allerdings habe ich mich später dazu entschlossen anzunehmen, dass auch ein Minister, überrollt von dem, was da plötzlich auf ihn zukommt, möglicherweise in die falsche Schublade greift.“

Doch Scharpings rhetorischer Overkill während des Kosovo-Krieges ist wohl mehr als nur eine lässliche Sünde. Das schwant inzwischen auch Teilen des grünen Koalitionspartners. Deren Verteidigungs-Experte Nachtweih hat bei der rot-grünen Bundesregierung „eine Verweigerungshaltung gegenüber einer umfassenden Aufarbeitung des Kosovo-Krieges“ ausgemacht. Statt „das Wechselspiel von Verdrängung und Rechthaberei“ fortzusetzen, verlangt Nachtweih die Einsetzung einer unabhängigen und hochrangigen Kommission, die nicht zuletzt die dubiose Informationspolitik der Regierung Schröder während des Kosovo-Krieges untersuchen soll. Nachtweih: „Wir müssen die Schützengräben des Propagandakrieges verlassen.“

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