Vielfalt für das Gemeinwohl

Foto: ARD/Wikimedia: Bodow, Andreas Praefcke Montage: Petra Dreßler

Wie kann „Gemeinwohl durch Vielfalt in den Medien“ entstehen? Welche Rolle spielen dabei öffentlich-rechtliche Medien? Zwei von vielen Fragen, um die es auf der Zweiten Europäischen Public Value Konferenz am 5. und 6. Oktober in Leipzig ging. Ausrichter war der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in Kooperation mit der Handelshochschule Leipzig (HHL). Rund 130 Journalist*innen, Medienwissenschaftler- und Politiker*innen diskutierten über Vielfalt als eine Grundvoraussetzung der Demokratie. 

Die Krise beim Rundfunk Berlin-Brandenburg habe eine „intensive Legitimationsdebatte“ über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgelöst, sagte MDR-Intendantin Karola Wille zur Einführung. Bei der „Gesamtverurteilung“ werde indes „vergessen oder übersehen, was dieses System tatsächlich leistet“. Reformen seien notwendig, damit angesichts der aktuellen Zuspitzungen – Pandemie, Ukrainekrieg, Klimakrise – der Rundfunk seine gesellschaftliche Aufgabe weiter erfüllen könne. 

Es gelte, die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse des Publikums immer im Blick zu haben, sagte Wille. Dies klinge selbstverständlich, aber der gesellschaftliche Nutzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) müsse „im Diskurs mit der Gesellschaft immer wieder selbstkritisch reflektiert und belegt werden“. Das Grundziel, für die Menschen einen Wert darzustellen, müsse darauf abgeklopft werden, wie es in der Praxis mit dem Vielfaltsbegriff verbunden werden könne. 

Sie erinnerte an die auf dem ersten „Leipziger Impuls“ von 2019 definierten Handlungsfelder: die Entwicklung von Innovationen für die öffentliche Meinungsbildung, Qualitätssicherung, die Schaffung von Gemeinwohlnetzwerken, Transparenz, Sicherung der Unabhängigkeit durch Einbindung gesellschaftlicher Gruppen, gemeinwohlorientierte Führung.

Die öffentlich-rechtlichen Medien müssten nach ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag in der dualen Ordnung „die Vielfalt der Meinungen und Perspektiven, Werthaltungen und Erfahrungen in größtmöglicher Breite abbilden“. Dies sei „der Kern und das Ziel der Rundfunkfreiheit“. Zugleich müsse der ÖRR einer anderen Entscheidungsrationalität als der der ökonomischen Anreize folgen. „Verantwortungsvoll gelebte Vielfalt“, resümierte Wille, „trägt zum Gemeinwohl bei, weil Menschen Andere und Anderes erst dann anerkennen, wenn sie selbst anerkannt werden“.

Global verstärkt unter Druck

In Video-Botschaften bekannten sich Vertreter des ZDF, der Schweizer SRG und des österreichischen ORF zu den Zielen des „Leipziger Impulses“. Für ZDF-Intendant Norbert Himmler geht es darum, das Spannungsfeld zwischen dem Gemeinwohl und der Vielfalt individueller Lebensentwürfe auszubalancieren. Auch SRG-Generaldirektor Gilles Marchand begreift die „Achtung der Diversität und die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen“ als Legitimationsgrundlage des ÖRR. Das sei in der Schweiz mit ihrer sprachlichen kulturellen Vielfalt besonders wichtig – angesichts von gesellschaftlichen Spaltungserscheinungen in einem „Kontext, in dem Emotionen, Empörung und Vereinfachung viel lauter sind als die Vernunft“. Das öffentliche Interesse bestehe aber nicht in der Summe der Partikularinteressen, sondern in der Überwindung dieser Interessen auf der Suche nach dem Gemeinwohl.

ORF-Generaldirektor Roland Weißmann sieht angesichts krisenhafter Entwicklungen traditionelle Institutionen global verstärkt unter Druck. Diese Tendenz werde „befeuert von der Übermacht der Netzgiganten, die traditionellen Medien die Finanzierungsgrundlage entziehen und so eine ernste Bedrohung für den Pluralismus darstellen“. Um den öffentlichen Diskurs zu schützen, müsse der ÖRR gemeinsam Qualität und Pluralität stärken. Ein funktionierendes duales Mediensystem aus privaten und öffentlich-rechtlichen Medien sei unabdingbar für den „kritischen öffentlichen Diskurs und damit für das Funktionieren von Demokratie“.

Kai Gniffke, Intendant des Südwestrundfunks (SWR), sieht eine „große Reformbereitschaft“ beim ÖRR. Die multiplen Krisen um Pandemie, Klima und Krieg stellten die Anstalten vor „riesengroße Herausforderungen“. Diese „Zeitenwende“ erfordere einen „Marktplatz der Meinungen, auf dem man verlässliche, valide recherchierte Informationen bekommt“. Für Gniffke, der zum 1. Januar 2023 den ARD-Vorsitz übernimmt – Amtsinhaber und WDR-Intendant Tom Buhrow fehlte aufgrund einer Covid-19-Erkrankung – könnte die ARD bald an finanzielle Grenzen stoßen. „Dass in großer Zahl Ressourcen vom Himmel fallen, ist nicht zu erwarten“, schwant ihm. Die von ihm unlängst geäußerte Idee, für die Dritten Programme ein gemeinsames Mantelprogramm zu entwickeln, sei eine Möglichkeit, „Kräfte zu bündeln“. Dies müsse aber im Senderverbund noch sorgfältig erörtert werden.

Ein ARD-Vorsitzender sei „kein Konzernchef“, könne aber einiges anschieben, ergänzte MDR-Intendantin Karola Wille. Ihr Sender habe sich in den zwei Jahren des ARD-Vorsitzes 2016/2017 verstärkt des Themas Diversität angenommen – als Reaktion auf eine Programmstudie, nach der in den fiktionalen Angeboten des Senderverbunds noch „ein einseitiger Blick“ vorherrsche. Auch werde versucht, über das Content-Netzwerk „funk“, verstärkt die junge Generation zu erreichen. 

Föderalismus gibt Stabilität

Die Vielfalt der ARD spiegele sich schon in der föderalen Struktur, erklärte Martin Grasmück, Intendant des Saarländischen Rundfunks. Der Föderalismus – sowohl auf der politischen als auch auf der medialen Ebene – gebe Stabilität. Jeder Sender bringe sich mit seinen speziellen Stärken ein – der SR etwa mit seiner Frankreich-Kompetenz. Schon jetzt werde sehr eng mit dem SWR kooperiert. Zum Beispiel gebe es bereits ein gemeinsames Mantelprogramm, ein gemeinsames Archiv sowie  ein gemeinsames Orchester für Rheinland-Pfalz und das Saarland.

Als kleinere Anstalt habe man die Chance, sehr enge Bindungen zum Publikum herzustellen, sagte Yvette Gerner, Intendantin von Radio Bremen. Über den „Meinungsmelder“ greife der Sender gezielt auf Social Media die Bedürfnisse der Menschen auf und bereichere dadurch die Berichterstattung. Im Sommer sei ein Versuch gestartet worden, auch in der Mediathek ein Dialogformat zu entwickeln. 

Susanne Wille, Abteilungsleiterin Kultur bei der schweizerischen SRG, sprach von verstärkten Bemühungen, mit interaktiven Programmen jüngere Zielgruppen zu erreichen. Dies geschehe vorzugsweise live. Als Überraschungserfolg nannte sie „Sternstunde Philosophie“, ein Format, bei dem Alltagsfragen aus philosophischer Sicht diskutiert werden, dessen User über ein Durchschnittsalter von 34 Jahren verfügten. Das Ziel, allen Communities gerecht zu werden, sei für den Sender eine „anspruchsvolle Herausforderung“.

Vielfalt stärker stimulieren

Klaus Unterberger ist als Leiter des Public-Value-Kompetenzzentrums des ORF verantwortlich für Maßnahmen der Qualitätssicherung. „Vielfalt funktioniert nicht als kategorischer Imperativ“, konstatierte er. Viele Menschen würden sie nicht als Bereicherung empfinden, sondern fühlten sich dadurch verunsichert oder überfordert. Nötig sei eine kritische Debattenkultur. „Wir müssen Vielfalt stärker erklären“, so seine überraschende These. Vielfalt dürfe auch kein „Elitendiskurs“ sein. Es sei „nicht ideal, dass kritischer Journalismus so tief im Establishment gelandet ist wie das in den öffentlich-rechtlichen Systemen inzwischen der Fall ist“. Vielfalt müsse von den Sendern in der Demokratie „viel stärker aktiv initiiert und stimuliert“ werden und „nicht nur deklariert“. 

Kontrovers beurteilt wurde eine Regelung im neuen ORF-Redaktionsstatut. Darin ist vorgesehen, dass Redakteur*innen einer Führungskraft nach drei Beschwerden das Misstrauen aussprechen können. Aufgrund der kurzen Geltungsdauer des Statuts konnte ORF-Mann Unterberger noch keine Erfahrungswerte einbringen. Grundsätzlich hält es diese Regelung „gerade bei der aktuellen Vertrauenskrise“ in einigen Häusern für einen richtigen Schritt. Es dürfe nicht sein, dass die Mitarbeiter*innen „eine Krise ausbaden, mit der sie selber nichts zu tun haben“. 

„Keine Angst vor Führung“, konterte SWR-Intendant Gniffke. Die Mitarbeiter*innen erwarteten „gute, verantwortungsbewusste Führung“.  Auch eine Mitsprache der Redaktionen bei der Personalauswahl ist ihm nicht geheuer. Aus der Organisationssoziologie wisse man, dass sich dann „das System perpetuiert, dann werden wir immer dieselben Menschen im Sender haben“. Damit  werde die Forderung nach Vielfalt auf den Kopf gestellt. 

Zweifel an der Vielfalt im Meinungsspektrum der ARD wies Gniffke zurück. Zwar räumte er ein, dass zu bestimmten Sachthemen etwa in den „Tagesthemen“ ein Mangel an konservativen Kommentatoren herrsche. Einstellungsverfahren dürften aber nicht in „Gesinnungsschnüffelei“ ausarten. Schließlich könne er, so Gniffke, bei einer Ausschreibung nicht formulieren: „Bei gleicher Qualifikation werden Populisten bevorzugt.“

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