Brauchen wir künftig noch ein öffentlich-rechtliches Fernsehen? Angesichts einer Medienlandschaft, in der jeder einzelne fast beliebig aus einem riesigen Internet-Angebot an Videos, Filmen und Sendungen wählen kann? Welche Rolle können und sollen ARD und ZDF in einer sich rasant verändernden Medienwelt spielen? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Gutachten, das soeben im Auftrag des ZDF von den Rechtsprofessoren Dieter Dörr, Bernd Holznagel und Arnold Picot vorgelegt wurde. Titel der Studie: „ Legitimation und Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Zeiten der Cloud“.
Mit dem Begriff „Cloud-TV“ bezeichnen die Wissenschaftler die jüngste Entwicklung im Fernsehen, nach Terrestrik, Kabel und Internet. Cloud-Fernsehen meint die Möglichkeit, alle Arten von Bewegtbildangeboten – ob lineares Programm, Video-on-demand, andere Online-Dienste oder auch Social-Media-Plattformen – aus der Cloud herunterzuladen, alles aus einer Hand. Ergänzt wird dieses Angebot noch durch umfassende Personalisierungs- und Empfehlungssysteme auf Basis von Big-Data.
Damit gehen einschneidende Veränderungen einher: die durch die Digitalisierung ermöglichte Explosion von Angebots- und Zugangsvielfalt, die Aufhebung getrennter Verbreitungswege, die Verschmelzung von linearen und nicht-linearen Angeboten, die Fragmentierung des Sehverhaltens sowie die Vermischung von Massen- und Individualkommunikation.
Auch Deutschland folge derzeit einer Entwicklung, die in weiten Teilen Asiens und den USA bereits Wirklichkeit sei, erläutert Bernd Holznagel, Mitautor der Studie. Dort seien 85 Prozent des gesamten Datenverkehrs bereits auf das Video bzw. das Fernsehen gerichtet. Die Übertragung erfolge im Internet. Verarbeitet und gespeichert werde dies in den Clouds, also Rechenzentren, die jetzt auch in der Bundesrepublik aufgebaut würden. Fernsehen, so eine Folgerung der Studie, könne daher längst nicht mehr isoliert vom Netz betrachtet oder veranstaltet werden. Es sei eine völlig neue Struktur entstanden, die auch neuer Organisationsformen und –regeln bedürfe.
Aus Sicht der Gutachter gehen von neuen geschlossenen Systemen des Cloud-TV nicht unerhebliche Gefahren aus: eine potentielle Machtkonzentration in den Händen weniger Global Player bis hin zu den Risiken von „Echo-Chambers“. Wenn ein umfassendes Cloud-Angebot, wie es Amazon derzeit errichte, seinen Kunden „alles aus einer Hand“ anbiete, um sie komplett an sich zu binden, dann verringere sich die Chance anderer Anbieter, den Nutzer noch zu erreichen. „Unsere altbewährte Strategie eines strukturiert geplanten, linearen Programmflows wird insbesondere bei jüngeren Zuschauern an Bindungskraft verlieren“, fürchtet denn auch ZDF-Intendant Thomas Bellut im Vorwort der Studie. Seine Forderung: „Wir müssen unsere Angebote daher verstärkt in die Welt des Cloud-TV übersetzen.“
Dass die Studie die Berechtigung dieser Forderung unterstützt, dürfte nicht überraschen. Nach Auffassung der Autoren besteht der grundgesetzlich fixierte Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zur Meinungsbildung und Integration der Gesellschaft beizutragen, auch unter den sich verändernden Verhältnissen weiter fort. Damit sei die Medienpolitik gefordert. Zuallererst müssten die gegenwärtig restriktiven Regelungen für die Online-Angebote der Öffentlich-Rechtlichen „den aktuellen Nutzungserwartungen angepasst“ werden. So müssten Sendungen künftig länger als heute erlaubt in den Mediatheken bleiben dürfen. Es sei den Zahlern des Rundfunkbeitrags „nicht zu vermitteln, warum die mit den Rundfunkbeiträgen produzierten Sendungen nicht unabhängig von dem Sendetermin der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollen und weshalb der ÖRR seine Archive nicht – ähnlich wie öffentliche Bibliotheken – öffentlich zugänglich und nutzbar macht“.
Eine Lockerung der bisherigen Regel schlägt die Studie auch in Bezug auf angekaufte Angebote vor. Es sei „vorstellbar, das grundsätzliche Verbot des Verfügbarmachens von angekauften Angeboten in Mediatheken aufzuheben, aber in Anlehnung an das BBC-Modell eine zwingende Höchstverweildauer von 30 Tagen vorzusehen“. Ein Modell, das sich auch auf Sportsendungen ausweiten ließe.
Des Weiteren empfehlen die Verfasser, die Mediatheken der Sender „zu einem eigenständigen, vom linearen Programm unabhängigen Angebot“ auszubauen. „Online-Inhalte sollten daher vermehrt für die eigene Plattform hergestellt und dort verbreitet werden.“ Dies sei im Hinblick auf das neue Jugendangebot „Funk“ bereits vorgeschrieben. So solle verhindert werden, dass bereits in anderen Programmen verfügbare Inhalte nur „recycelt“ würden. Auch die Einführung eines „mobilen Newsstreams“ halten die Gutachter für denkbar – ein solcher Dienst sei nicht von vornherein ein „presseähnliches Angebot“.
Falls die Verbreitung neuer Online-Angebote mit dem bestehenden Telemedienkonzept kollidiere, müsste „für sie ein neues Telemedienkonzept erstellt und vom Fernsehrat beschlossen werden“. Voraussetzung sei allerdings unter anderem, dass diese neuen Angebote „den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen“ und „in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beitragen“.
Um die Verbreitung und Auffindbarkeit öffentlich-rechtlicher Inhalte zu verbessern, postulieren die Gutachter auch „eine intensivierte Präsenz auf Drittplattformen“. Zudem sollten die eigenen Webportale der Öffentlich-Rechtlichen verstärkt dazu genutzt werden, „Plattformfunktion insbesondere für die Angebote anderer Kultur- oder Wissenschaftseinrichtungen wahrzunehmen“.
ZDF-Intendant Bellut: „Die Gesellschaft braucht unabhängige Medien. Wir tragen Verantwortung und haben den Anspruch, einen exzellenten, unabhängigen Journalismus zu liefern.“