100 Jahre Radio – ungebrochene Popularität

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Autobiografische Notizen eines Fans und Radiomachers

Ich gestehe: Mein Lieblingsmedium war von Anfang an das Radio. Als Kind der 50er Jahre wurde ich vom Hörfunk sozialisiert. Eine Glotze kam uns erst zu Beginn der 60er ins Haus. Mein Lieblingsplatz im Wohnzimmer war die Couch, mit direktem Zugriff auf die Musiktruhe, nach meiner Erinnerung ein Modell der Marke Loewe Opta, multifunktional mit eingebautem Plattenspieler (samt 10-Single-Wechsler) und Platz für die spärliche Vinylsammlung.

In meinem Heimatsender WDR überwogen in den 50er Jahren musikalisch Klassik und Schlager. Meine Favoriten waren dagegen bald Radio Luxemburg, vor allem die sonntägliche Hitparade und später der britische Soldatensender BFBS. Unvergessen die schmissige Ansage „It’s Top Twenty Time“, mit der zu den Klängen des Rockabilly-Instrumentals „Sandstorm“ von Johnny & the Hurricanes Moderator Tony Hall Samstag die Samstagnächte einläutete. Manche der DJs kamen von oder gingen später zu Piratenstationen wie Radio Caroline, die mangels Lizenz – Privatradios waren auch in Großbritannien damals noch illegal – von in der Nordsee ankernden Schiffen Popmusik rund um die Uhr unter die Jugend brachten.

Die coolen Moderatoren wählten die Platten selbst aus, schrieben ihre eigenen Texte, kommunizierten locker mit den Fans – fast undenkbar für heutige Formatradios mit meist seelenlosen computergesteuerten „heavy rotations“. Fans, die (seit Elvis Presley) erstmals ihre eigene Musik hören durften. Bis sich ein so entspanntes Format bei den Öffentlich-Rechtlichen durchsetzte, sollte noch eine ganze Dekade vergehen. Einige der ehemaligen DJs von Soldatensendern wie BFBS und AFN leisteten Entwicklungshilfe im zunächst etwas konventionellen bundesdeutschen Nachkriegsradio. Berühmt wurden Chris Howland („Mr. Heinrich Pumpernickel“) mit „Musik aus Studio B“ und Mal Sondock mit dem WDR-Format „Diskothek“.

Spannung bei Politik und Krimi-Hörspielserien

Zitternd vor Aufregung verfolgten wir 1961 am Empfangsgerät die Übertragung vom Bau der Berliner Mauer. Meine Mutter, in den letzten Kriegstagen 1945 aus dem oberschlesischen Kattowitz geflüchtet, fürchtete damals den Durchmarsch „der Russen“ nach Westen. Für mich war es rückblickend eine Art Neuauflage von Orson Welles‘ „Krieg der Welten“ (das ich allerdings erst später kennenlernen sollte). Bibbernd lag ich gelegentlich am späten Abend mit meiner großen Schwester im Bett und lauschte Krimi-Hörspielserien, so genannte „Straßenfeger“ wie „Gestatten, mein Name ist Cox“ und „Paul Temple“ von Francis Durbridge.

Ich erinnere die Schulfunk-Serie „Neues aus Waldhagen“, ein nach heutigen Maßstäben arg betulich gestricktes Sozialkundeprogramm, das ich werktags nach der Schule gern hörte. Nicht zu vergessen der „Abend für junge Hörer“, ein seit 1954 ausgestrahltes für damalige Hörgewohnheiten extrem spannendes – heute würde man sagen:  innovatives – Freitagabendformat des NWDR mit Publikumsbeteiligung. Zumindest ansatzweise wurde hier das Brechtsche Ideal vom Rundfunk als Instrument der Demokratisierung eingelöst.

Neues bei „Europawelle Saar“ und „Jugendstudio DT64“

1964 startete die „Europawelle Saar“ – ein Begleitmedium mit einer bis dato unüblichen Mischung aus moderner Musik und aktueller Information, weit weg vom üblichen Bildungs- und Erziehungshabitus der meisten anderen ARD-Sender. Fast zeitgleich bekam auch der Nachwuchs in der DDR mit dem „Jugendstudio DT64“ erstmals eine eigene Sendung. 1986 mutierte diese sogar zum Vollprogramm. Bis kurz vor der Wende unter strenger Beobachtung der SED-Kulturoberen, entwickelte es sich in der Wendezeit zu einer Art „Scharnier zwischen Ost- und West-Musikkultur“. Dass auch DT64 1993 nach teils heftigem Widerstand sang- und klanglos abgewickelt wurde, ist eines der traurigsten Kapitel der „feindlichen Übernahme“ ehemaliger DDR-Medien

Meine erste bewusste, Begegnung mit der „Power von der Eastside“ hatte Anfang der 80er Jahre stattgefunden, als ich nach dem Publizistik-Studium an der FU Berlin in den freiberuflichen Journalismus einstieg. Es waren die Jahre der beginnenden Rundfunk-Privatisierung, der Liberalisierung von Ätherwellen, Kabel und Satellit. „Kabel-Kommerz? Ohne uns!“ – unter dieser Parole stemmten sich die IG Druck und Papier und die Gewerkschaft Kunst, Vorläufer der IG Medien und ver.di, eine Zeitlang gemeinsam mit anderen medienkritischen Initiativen gegen die drohende Kommerzialisierung der Öffentlichkeit. Vergebens. Nach dem „Urknall“ mit dem Start der ersten beiden privaten TV-Sender Sat.1 und RTL plus Anfang 1984 folgten schon drei Jahre später die ersten Lizenzerteilungen an Privatradiobetreiber. Das Gewerkschaftsblatt „Hörfunk-Fernsehen-Film“ beschrieb bald darauf die „frühkapitalistischen Verhältnisse im Kommerzfunk“ als „tariflose Steppenlandschaft“.

Flächendeckende Musikteppiche bei allen Wettbewerbern

In einer Art vorauseilender Anpassung an die erwartete „Programmfarbe“ der künftigen Wettbewerber hatten in West-Berlin die Platzhirsche Sender Freies Berlin (SFB) und der RIAS auf einigen ihrer Kanäle schon mal flächendeckende Musikteppiche ausgerollt. Motto: Worte quälen, Musik entspannt. Mit „Hundert,6“, dem „Froschfunk“ des einstigen Jungfilmers Ulrich Schamoni, feierte ab 1987 kleinbürgerliche Dumpfheit kurzzeitig einsame Quotentriumphe. Zeitgleich versuchten sich mit „Radio 100“ auch ehemalige Radiopiraten und Alternative am Aufbau einer progressiven Gegenöffentlichkeit. Ich selbst arbeitete seit 1985 als freier Autor für verschiedene ARD-Hörfunksender.

Nicht wenige Kolleg*innen der etablierten Sender unterstützten die idealistischen Alternativfunker mit Interviewtraining und O-Ton-Spenden. Eine Programmkritik von SFB-Kolleg*innen bescheinigte „Radio 100“ nach den ersten Sendemonaten am Beispiel der politischen Berichterstattung dennoch grundlegende professionelle Defizite: Zitierte Stimmen stammten meist aus der „Szene“, Gegenpositionen würden nicht aufgenommen, die Moderatoren zelebrierten meist nur die eigene Weltsicht. Für manche Nachrichtensendung gelte: „Das Hören an sich wird zur Arbeit.“ Dass das Projekt eines werbefinanzierten, linken Radios unter kapitalistischen Rahmenbedingungen scheitern musste, kann kaum verwundern.

Piratensender, Freie Radios, Bürgerradios, Nicht-Kommerzielle Lokalradios, Offene Kanäle – unter so diversen Labels versuchten engagierte Bürger*innen auch in der Folgezeit, im Lokalen für mehr kritische Öffentlichkeit zu sorgen – legal, illegal, „scheißegal“. Tropfen auf den heißen Stein, gemessen am nun einsetzenden bundesweiten Trend zu Formatradios Typ Dudelwelle „Die 70er, die 80er, die 90er und Das Beste von heute“.

Nach wie vor wird UKW-Radio gehört

Gleichwohl: Das gute alte Dampfradio lebt. Noch um die Jahrtausendwende plante die EU-Kommission, bis 2012 komplett vom analogen UWK-Empfang auf Digitalradio DAB umzustellen. Daraus wurde nichts.  Auch die Bundesregierung hat den ursprünglich bis 2015 angepeilten Switchover längst aufgegeben. Nach wie vor hört eine Mehrheit hierzulande UKW-Radio – auch wenn die Reichweiten von DAB+ und Webradios wachsen. Gleichzeitig operieren die Öffentlich-Rechtlichen technologisch und programmlich sehr wohl auf der Höhe der Zeit. Das belegt der Start der ARD-Audiothek vor sechs Jahren. Die App für Smartphones und Tablets offeriert eine riesige Auswahl hörenswerter Beiträge aller ARD-Wellen inklusive Deutschlandradio. Mit dem Genre Hörspiel als „Kino im Kopf“, der einzigen eigenständigen Kunstform, die das Medium hervorgebracht hat.

Doch die Zeiten werden härter, auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Unter dem von der Politik ausgeübten Spardruck sind Intendant*innen und Programmdirektor*innen einiger ARD-Sender im Begriff, den bisherigen Qualitätsanspruch zu gefährden. Zum Beispiel Bayern 2, die Kulturwelle des BR. Was die Senderleitung als „Reform“ und „Kulturoffensive“ verkaufen will, läuft für Kreative und Hörer*innen, wie die „Süddeutsche“ schrieb, eher auf „Kahlschlag, inhaltliche und intellektuelle Verflachung, Selbstverzwergung“ hinaus.

Lang lebe das Radio

Dabei ist die Popularität des Radios ungebrochen. Laut Langzeit-Studie ARD/ZDF – Massenkommunikation Trends war Audio (inklusive Streaming und Podcast) im Jahr 2022 die einzige Mediengattung mit einem Gesamt-Wachstum: 175 tägliche Nutzungsminuten bedeuten ein Plus von fünf Minuten gegenüber dem Vorjahr. Video killed the Radio Star? Von wegen. Geht es nach den Bedürfnissen des Publikums, dürfte dem Medium noch eine lange Zukunft beschieden sein.


Mehr dazu im M-Podcast:

Mit der Berliner Funk Stunde ging der Rundfunk in Deutschland vor 100 Jahren am 29. Oktober 1923 auf Sendung. Kurz darauf folgte mit dem ersten Hörspiel das erste Radiokunstwerk. Die Bauhaus-Universität Weimar erforscht aus diesem Anlass die historische Verbindung von Rundfunk und Globalisierung. Zum Teil unbekanntes Archivmaterial hilft, die Geschichte der Radiophonie zu erkunden. Nathalie Singer von der Fakultät Kunst und Gestaltung der Uni im M-Podcast:

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