Drehen mit dem Lastenfahrrad

Verkehrswende als Sujet und selbst bei der Filmproduktion praktiziert

Eigentlich rauschen sie über eine Autobahn, wenn dieses Wort nicht dem Kern des Ganzen widersprechen würde: Denn hier in Kopenhagen gibt es Fahrräder, soweit das Auge reicht. Tausende Menschen pendeln auf dieser Fahrradschnellstraße tagtäglich zur Arbeit. Mittendrin radelt Johan von Mirbach (Foto) mit ungewöhnlichem Gepäck in seinem Lastenrad: Dort sitzt Frank Kranstedt mit der Kamera über der Schulter und filmt eine Protagonistin ihres Dokumentarfilms. Gemeinsam mit Tonmeister Ralph Gromann auf dem zweiten Lastenrad, das die Technik transportiert, sind sie Teil des Fahrradstroms. Autos: Verboten! „Mit dem Auto“, betont Kameramann Kranstedt, „hätten wir hier überhaupt nicht drehen können!“

Johan von Mirbach radelt und Kameramann Frank Kranstedt filmt.
Foto: Ralph Gromann

Als sich Autor und Regisseur von Mirbach Ende 2020 mit Produzent Valentin Thurn an die Projektvorbereitung macht, soll die Verkehrswende zunächst nur Sujet der Dreharbeiten sein. In ihrem 52-minütigen Dokumentarfilm „Wie gelingt die Verkehrswende?“ wollen von Mirbach und Thurn aufzeigen, wie Großstädte die Mobilität ihrer Bewohner so verändern können, dass sie ökologischer und emissionsärmer ist, weniger Verkehrsopfer fordert und so die Städte attraktiver macht. Von Mirbach fährt selbst seit mehreren Jahren Lastenrad und so kommt ihm im Frühjahr 2021 die Idee: „Lasst uns das Thema des Films auch in der Produktion realisieren!“ Produzent und Kameramann sind sofort Feuer und Flamme. Und von Tonmeister Gromann weiß von Mirbach, dass der ebenfalls ein passionierter Radfahrer ist.

Keine Parkplatzsorgen

„Sonst verbringt man beim Drehen in Großstädten die Hälfte des Tages mit Stau und Parkplatzsorgen“, erzählt Kranstedt, den zudem die Kamerafahrten mit dem Fahrrad reizen. Wenn er von der Idee erzählt, bekommt von Mirbach immer wieder von Kolleg*innen zu hören, dass sie das Experiment wohl nicht mitgemacht hätten. „Die Physis sollte nicht unterschätzt werden“, sagt der Regisseur. Viele Dok-Kolleg*innen brächten diese zwar mit, aber eben auch nicht alle. Als Gesamtstrecken kommen da etwas 40 Kilometer zustande. „Du musst das Rad auch halten können, dass es nicht umkippt“, betont er. Die Räder selbst wiegen etwa 30 Kilogramm, beladen kommen nochmal 20 Kilogramm hinzu – und der Mensch an der Kamera.

„Beim Dokumentarfilm ist es selbstverständlich, dass wir uns im kleinen Team gegenseitig unterstützen“, erzählt der Regisseur. Kamerabühne hat er auch schon bei Autofahrten übernommen. Auf dem Lastenrad wählt er einen niedrigen Gang, um möglichst stabil zu fahren. Und damit die Bilder gut werden, muss er nah auf die gefilmten Objekte auf- und dann daran vorbeifahren. 20 bis 30 Stundenkilometer kommen da, unterstützt vom Elektro-Akku, durchaus zustande, und damit auch eine große Verantwortung für den Regisseur: „Frank hält die Kamera vor sich und würde einen möglichen Unfall daher viel zu spät sehen.“ Doch Frank Kranstedt fühlt sich vorne im offenen Lastenrad wohl und beim Fahrstil des Regisseurs absolut sicher.

In der Organisation tun sich ein paar Probleme auf: Der erste Dreh findet in Paris statt, die Stringer vor Ort, die die Planung übernehmen, haben zunächst keine Ahnung, wo sie anrufen sollten. Autos lassen sich über die großen Autovermieter leihen, aber Fahrräder? „Der Markt ist noch total jung. Die Preisunterschiede waren unglaublich“, erzählt Produzent Thurn. Und anders als

Autovermietungen bieten die noch keine pauschale Versicherung an, die beim Ausleihen einfach mit abgeschlossen werden kann. Letztendlich behilft sich der Produzent über die Filmversicherung, wo die Lastenräder als „Requisiten“ eingestuft werden. Von Mirbach ist überzeugt, dass sich solche Probleme bald besser lösen werden: „Dann wird es völlig selbstverständlich sein, Lastenräder auszuleihen.“ Wegen der Anlaufprobleme finden beim Projekt noch einige Hinfahrten mit dem Taxi statt.

„Kopenhagen ist da, wo Paris hinwill. Kopenhagen ist eine der fortschrittlichsten Mobilitäts-Städte der Welt“, steht im Exposé zum Dokumentarfilm. Und in vieler Hinsicht trifft dies dann auch bei den Dreharbeiten zu. Es ist überhaupt kein Problem, ein Lastenrad zu mieten. Allerdings tritt ein anderes Problem stärker zutage: Die Cases der Lastenräder sind überhaupt nicht normiert. Und noch schlimmer: „Die Verleiher geben beim Vermieten überhaupt keine Größen der Boxen an“, sagt von Mirbach. In ganz viele Boxen passen gerade einmal zwei Wasserkästen, beschreibt Kranstedt. Das reicht für den Familieneinkauf, aber nicht für ein Drehequipment: „Das Case in Paris war perfekt. Wenn in Barcelona das Stativ drin war, haben wir das Case nicht mehr richtig zugekriegt.“ Da haben die Drei dann doppelt Glück, dass es beim Dreh eigentlich nie regnet. „Ansonsten hätten wir improvisiert“, sagt von Mirbach. Bis bei den Boxen die Maße standardisiert sind, müsste man in der Vorbereitung darauf achten, große Boxen zu bekommen. Kranstedt spielt derweil „Tetris“ und nimmt manchmal einfach das Licht auf den Schoß.

Beautyshots beim Vorbeiradeln

Einfach gestalteten sich dafür durch die Lastenräder viele andere Dinge. Während ansonsten bei Drehs große Zeitpuffer für Stau und Parkplatzsuche eingeplant werden, kommt man mit dem Rad auf die Minute genau an, sagt Johan von Mirbach: „Unsere Zeitplanung und die Angaben von Google-Maps stimmen immer.“ Manchmal allerdings, ergibt sich doch ein Grund fürs Zuspätkommen, wenn sie so durch die Städte radeln und sich urplötzlich ein wundervolles Motiv auftut. „Wir erschließen uns die Stadt! Wir wussten vorher gar nicht, dass wir dort drehen wollen“, sagt Kranstedt: „Sonst läuft es so ab: Hinfahren und Parken dauert 40 Minuten, um dann 5 Minuten zu drehen.“ So fährt das Team durch die Ramblas in Barcelona oder am Seine-Ufer entlang oder in die vielen Ecken Kopenhagens, die für den Autoverkehr gesperrt sind. „Für unseren Film ist es besonders wichtig, Teil dieser neuen Mobilität zu sein, und an Plätzen zu drehen, die schon für die Zukunft stehen“, betont von Mirbach. Und auch die Interviewpartner waren sehr positiv überrascht, u.a. Lastenrad-Visionär Hans Fogh aus Kopenhagen oder Johanna Schelle von der Initiative Radbahn in Berlin. „Das hat uns Türen geöffnet“, sagt der Regisseur. Aber je mehr die Verkehrswende voranschreitet, desto mehr wird es auch für Drehs mit ganz anderen Themen wichtig werden, solche Bereiche ohne Autoverkehr befahren zu können.

Das Lastenrad wird künftig noch häufiger bei Dreharbeiten eingesetzt, sind Produzent, Regisseur und Kameramann überzeugt. „Bei schlechtem Wetter und Dreh im ländlichen Bereich stößt man vielleicht an die Grenzen“, sagt Produzent Thurn. „Gerade in Großstädten kommen die Teams damit jedoch schnell an die Drehorte und können so einen Beitrag zum grünen Drehen leisten“, so der Regisseur. Kleines Equipment sei wichtig, aber grundsätzlich fehlt Kameramann Kranstadt nie etwas. Große Potenziale gibt es bei der aktuellen Berichterstattung oder etwa bei Umfragen in Fußgängerzonen.

ARTE und NDR als Auftraggeber waren immer von der Idee des Lastenrad-Drehs begeistert, von Mirbach würde sich allerdings wünschen, dass generell das Grüne Drehen noch mehr „promoted“ würde: „Die Sender könnten hier mit gutem Beispiel vorangehen!“ Und auch im fiktionalen Bereich ergeben sich Einsatzmöglichkeiten. „Ein ganzer Tatort-Dreh funktioniert nicht mit Lastenrädern statt mit den handelsüblichen 7,5 Tonnern“, sagt Kameramann Kranstedt. „Aber wenn bislang ein Auto losgeschickt wird, um eine Festplatte oder Komparsenscheine abzuholen, geht das auch mit dem Lastenrad.“ Gerade TV-Sender könnten Lastenräder zur Verfügung stellen, unter anderem der WDR tut dies bereits. Er verfügt derzeit über vier Elektro-Lastenfahrräder. „Sie kommen in den Landestudios Münster, Dortmund, Bonn und am Standort Köln zum Einsatz, wenn Material über kurze Strecken transportiert werden muss. Auch für einen kurzen Dreh in der City werden die Räder gern genutzt“, erklärt Stefan Leppel, Verantwortlicher für den WDR-Fuhrpark. Teilweise würden sie schon heute Teamwagen ersetzen. Lastenfahrer würden jedoch heutzutage nur für geplante Fahrten eingesetzt. „Kurzfristige Einsätze aufgrund plötzlich auftretender aktueller Sendeereignisse, z. B. vom Norden der Stadt schnell in den Süden der Stadt „radeln“ und dort mit der Kamera Videos vom Ereignis drehen, ist schwierig. Hier kommen dann doch wieder Teamwagen zum Einsatz; aber diese immer häufiger elektrisch“, so Leppel. Kameramann Kranstedt kann sich auch gut vorstellen, dass Filmtechnikverleiher solche Räder anschaffen.

Die Ausstrahlung des Dokfilms „Wie gelingt die Verkehrswende?“ ist für Anfang 2022 auf ARTE und NDR geplant. Mehr Infos

 

 

 

 

 

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