Fernsehserien im „Niemandsland“

Szene aus der HR-Serie „Asbest“: Wiktor (David Kross, li.) erwartet von Momo (Xidir – Alian Koder, re.) Fairplay auf dem Fußballplatz. Foto: HR/Degeto/Pantaleon Films GmbH/Simon Dat Vu

„Digital first. Bedenken second“ lautete eine Parole im Wahlkampf der FDP 2017. Zumindest den ersten Teil des Slogans hat sich auch die ARD zu eigen gemacht, als sie 2020 mit ihrer Serienoffensive nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel“ ausrief, wie der ARD-Fiction-Koordinator Jörg Schönenborn (WDR) es nannte: „Online first“. Ergänzen ließe sich: „Senioren second“. Viele neue Serien strahlt das „Erste“ nach dem Start in der Mediathek zwar auch linear aus, aber oft zu nachtschlafender Zeit. Ein Medienwissenschaftler bezeichnet das als „Altersdiskriminierung“.

Es gibt zwar schon lange keinen Sendeschluss mehr im deutschen Fernsehen, aber für den mutmaßlich größten Teil des Fernsehpublikums ist nach den „Tagesthemen“ Feierabend – selbst wenn sie nicht im „Ersten“ unterwegs sind. Bezeichnet eine Sprecherin der ARD-Programmdirektion einen Sendeplatz um 22.50 Uhr trotzdem als „prominent“, ist das mindestens merkwürdig. Um diese Uhrzeit hat die ARD an zwei Dienstagen im Sommer die sehenswerte Serie „37 Sekunden“ ausgestrahlt. Noch später, sonntags ab 0.05 Uhr, lief „Die nettesten Menschen der Welt“. Natürlich gibt es noch die Mediathek, die ja ursprünglich gerade für solche Zwecke eingerichtet worden ist.  Seither ist es kein Problem mehr, wenn man eine Sendung verpasst hat. Viele Ältere kennen dieses Angebot aber nur dem Namen nach, zumal ihre TV-Geräte im Zweifelsfall zwar „smart“, aber nicht mit dem Internet verbunden sind.

Wochen später zu nachtschlafender Zeit

Der Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger hält es daher für „Altersdiskriminierung“, dass gerade die ARD ihre neuen Serien getreu der Devise „Online first“ erst in die Mediathek stellt, um sie dann Wochen später im „Ersten“ zu nachtschlafender Zeit zu versenden, wo sie prompt nur ein überschaubares Publikum erreichen: Die sechs Folgen von „37 Sekunden“, eine potenziell preiswürdige Produktion über eine junge Musikerin, die ihren doppelt so alten Mentor wegen Vergewaltigung anzeigt, hatten im Schnitt gerade mal 500.000 Zuschauer. Noch ärger traf es „Die nettesten Menschen der Welt“ von Grimme-Preisträger Alexander Adolph („Unter Verdacht“): Als die en bloc ausgestrahlte originelle Mystery-Serie gegen 2 Uhr endete, schauten gerade noch 140.000 Menschen zu. Vermutlich, glaubt Hallenberger, „dachte man sich bei der ARD, so etwas interessiert unser altes Publikum sowieso nicht, was natürlich eine Frechheit ist. Die ARD hat offenbar noch ein Altenbild aus den Fünfzigern vor Augen.“

Ähnlich erging es zuletzt der verblüffend facettenreichen Serie „Nackt über Berlin“ mit Thorsten Merten, in der zwei Jungs ihren Rektor entführen: Was wie ein Schülerstreich beginnt, wandelt sich zu einer bemerkenswert komplexen Geschichte, die sogar Krimi-Elemente enthält. Das „Erste“ begann mit der Ausstrahlung am 13. Oktober um 22.20 Uhr; die letzte der sechs Folgen, die im Schnitt etwas mehr als 230.000 Zuschauer erreichten, endete um 2.50 Uhr. Die Programmdirektion rechtfertigt die späten Sendezeiten mit dem Hinweis, diese Serien seien gezielt für die Mediathek produziert worden, sie richteten sich „vornehmlich an eine jüngere Zielgruppe“. Wirklich korrekt ist das jedoch nur im Fall von „Asbest“. Die Knastserie über einen talentierten jungen Kicker, der im Gefängnis landet, ist über 9 Millionen Mal aufgerufen worden.

Gelungene Ansprache junger Menschen

Mit „Asbest“, freut sich die ARD, sei es gelungen, „Menschen anzusprechen, die wir sonst nur sehr schwer erreichen, vor allem das junge eher männliche migrantische Milieu.“ Die Serie sei zudem überdurchschnittlich oft auf Spielekonsolen angeschaut worden. Ohnehin seien 65 Prozent der Mediathekennutzer jünger als 60 Jahre, damit sei das Verhältnis „fast genau umgekehrt zum klassischen Fernsehen.“ Insgesamt erreicht die ARD-Mediathek täglich 2,2 Millionen Menschen und verzeichne somit die größte Reichweite unter den Streaming-Portalen der deutschen Fernsehsender. Kein Wunder, dass ARD-Programmdirektorin Christine Strobl die Strategie „Online first“ verteidigt: „Um mit unseren Inhalten wieder alle Menschen zu erreichen, brauchen wir eine starke ARD-Mediathek mit einem eigenständigen Programmangebot. Relevante und hochwertige Serien tragen ganz wesentlich zum Erfolg der Mediathek bei.“ Erfolge wie „Asbest“ zeigten, „dass es sich lohnt, neue Wege einzuschlagen und mehr Vielfalt zu wagen.“

Beim ZDF gilt zwar ebenfalls die Seriendevise „Online first“, aber die Mainzer zeigen neue Produktionen auf dem Tochtersender Neo oft bereits um 20.15 Uhr. Hallenberger lässt das jedoch nicht gelten: „Fernbedienungen haben in der Regel Tasten für die Programmplätze 1 bis 9. Ab 10 beginnt das Niemandsland. Neo dürfte nur in den allerwenigsten Haushalte einen der ersten Plätze belegen.“ Tatsächlich hatte der bei Neo ausgestrahlte sechsteilige Psychothriller „Der Schatten“ –  mit über 4,2 Millionen Abrufen ein großer Mediathek-Erfolg, selbst bei der ZDF-Wiederholung an einem Donnerstag ab 23.20 Uhr mehr Zuschauer als bei Neo. Seltsam auch, dass selbst auf Neo kurzweilige und zudem inhaltlich relevante Serien oft erst spät gezeigt werden, zuletzt zum Beispiel „Ready.Daddy.Go“ (ab 21.45 Uhr) über einen schwulen Single, der unbedingt Vater werden will, oder „Aufgestaut“ (ab 23.15 Uhr) über die Wut von Autofahrern, die im Stau stehen, weil „Klimakleber“ die Straße blockieren.

Stammpublikum nicht aus dem Blick verlieren

ARD und ZDF könnten es sich natürlich nicht leisten, ganze Altersgruppen aus den Augen zu verlieren, sagt Marcus S. Kleiner, Professur für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences: „Alle Medienunternehmen müssen auf den Medienwandel reagieren. Der Fokus sollte dabei immer auf den Bedürfnissen des Publikums liegen. Dieses Publikum ist aber nicht homogen, für viele ist Sendertreue heute die Ausnahme und permanenter Sender- und Medienwechsel die Regel.“ Für ältere Menschen gelte das allerdings oft nicht. Kleiner hat zwar Verständnis dafür, dass ARD und ZDF ihr Streaming-Angebot ausbauen, warnt aber auch davor, das Stammpublikum aus dem Blick zu verlieren: „Sonst entsteht eine öffentlich-rechtliche Zweiklassengesellschaft, die vor allem dem älteren Publikum schadet.“

„Online first“ gilt übrigens nicht grundsätzlich: „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ sind nicht vorab zu sehen. Es sei, erläutert die Sprecherin der Programmdirektion, „ein lieb gewordenes Ritual, sich den Sonntagskrimi im Fernsehen anzusehen und sich danach über das Gesehene auszutauschen. Mit dieser Tradition wollen wir nicht brechen.“ Die mit großem Abstand erfolgreichste Serie in der ARD-Mediathek ist übrigens „Babylon Berlin“: Die bisherigen vierzig Folgen sind insgesamt 85 Millionen Mal abgerufen worden.

Der Streaming-Markt

Laut einer Marktforschung von Goldmedia wird der deutsche Streaming-Markt von Netflix und Prime Video (Amazon) dominiert, beide mit jeweils rund 22 Prozent. Disney folgt mit gut 12 Prozent; RTL+, Joyn, Sky (Wow + Go) und Dazu kamen im ersten Halbjahr 2023 auf jeweils 5 bis 7 Prozent. Das deckt sich in etwa mit den Ergebnissen einer im August veröffentlichten Studie (TH Köln, Universität Weimar, HMR). 55 Prozent der Befragten gaben dort außerdem an, die Mediatheken von ARD und ZDF nur monatlich oder einmal pro Woche zu nutzen. tpg

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