Frisierte Texte

Studie der Otto-Brenner-Stiftung belegt verdeckte PR in Wikipedia

Eine neue Studie beschreibt, wie Unternehmen die Einträge im Online-Lexikon Wikipedia gezielt beeinflussen und unliebsame Informationen verschwinden lassen. Die bisherigen Regularien, an denen sich die überwiegend ehrenamtlich tätigen Schreiber orientieren, reichen nicht aus, um Manipulationsversuche abzuwehren.

Copyright: Wikimedia

Unter Lehrern, Dozenten und anderen Multiplikatoren, erst recht unter Schülern und Hochschülern genießt sie Kultstatus. Die angeblich von einer „Schwarmintelligenz“ getragene „Mitmach-Enzyklopädie“ Wikipedia gilt als legitimer Nachfolger des Brockhaus. Zu dieser scheinbar objektiven und unangreifbaren Wissensautorität haben viele Nutzer ein unkritisches, geradezu höriges Verhältnis. Kaum eine Hausarbeit von Studierenden aus der Generation der „Digital natives“ kommt noch ohne Verweise auf diese kostenfrei zugängliche Orientierungs- und Deutungsquelle aus.
Wikipedia hat einen Stammplatz unter den Top Ten der beliebtesten Internetseiten. Allein die deutschsprachige Ausgabe enthält 1,7 Millionen Artikel auf 4,6 Millionen Seiten. Weltweit nutzen 500 Millionen Menschen mindestens einmal pro Monat das Online-Lexikon, insgesamt 30 Millionen Texte in 280 Sprachen sind dort abrufbar. Deren Einfluss auf die Meinungsbildung wächst ständig – und weckt das Interesse der Public Relations-Abteilungen großer Konzerne.
Schon im Juli 2009 berichtete der Webauftritt der Illustrierten Stern über einen solchen Fall. In den Bearbeitungen des Wikipedia-Eintrags zum Atomkraftwerk Biblis tauchte auffällig oft eine bestimmte IP-Adresse auf. Der Nummerncode ließ sich zurückführen auf den AKW-Betreiber RWE, der stern.de zufolge „etwa Angaben zu Störfällen“ ergänzt hatte. Auch danach kam es über dieselbe Adresse zu Änderungen in inhaltlich verwandten Einträgen, unter anderem zu den Stichworten „RWE“, „Brennelementbehälter“, „Sicherheit von Kernkraftwerken“ und „Erneuerbare Energien“.

Hinweis auf gezielte Beeinflussung.

Der Bonner Journalist und Dozent Marvin Oppong hat ähnliche Beispiele in einer Studie zusammengetragen. Das Ergebnis seiner mehrjährigen Recherchen veröffentlichte jetzt die Otto-Brenner-Stiftung, die der Industriegewerkschaft Metall nahe steht. „Verdeckte PR in Wikipedia – Das Weltwissen im Visier von Unternehmen“ lautet der Titel der durch ein Stipendium unterstützten Expertise. „Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr habe ich den Eindruck gewonnen, dass PR in Wikipedia weit verbreitet ist“, sagt Oppong. Statt neutraler, von unabhängigen Schreibern eingestellter Fakten finde man dort immer häufiger durch Profis frisierte Texte, und das sei „kein Randphänomen“.
Der Autor kam den Manipulateuren auf die Schliche, in dem er IP-Adressen und Artikel mit Hilfe der Software WikiScanner verglich. Wenn der Eintrag über ein bestimmtes Unternehmen besonders intensiv von Rechnern dieses Unternehmens bearbeitet wurde, war das für ihn ein Hinweis auf eine mögliche gezielte Beeinflussung. Er belegt das etwa an der Daimler AG: So stammten zwischen 2005 und 2009 allein zwei Dutzend Änderungen im Daimler-Text von Computern des firmeneigenen Netzwerks. Inhaltlich ging es dabei um keine Bagatellen, sondern um heikle und öffentlich kontrovers diskutierte Themen wie Lobbying im Bereich Klimaschutz oder die Rolle des Stuttgarter Unternehmens im Nationalsozialismus.

In anderen Fällen wurden Texte nicht nur umgeschrieben, sondern unerwünschte Fakten und Details

CC – Creative commons BY – Namensnennung des Urhebers des genutzten Werkes SA – Weitergabe unter gleichen Bedingungen
CC – Creative commons
BY – Namensnennung des Urhebers des genutzten Werkes
SA – Weitergabe unter gleichen Bedingungen

gleich komplett eliminiert. Die Expertise beschreibt den Fall BASF Coatings, eines Lacke produzierenden Tochterbetriebs des Ludwigshafener Chemieriesen. Ein historischer Rückblick verwies auf „durch die Regierung bereitgestellte Zwangsarbeiter“ der damaligen IG Farben in der NS-Zeit und verlinkte zusätzlich auf den Wikipedia-Artikel „Zwangsarbeiter“. Über eine IP-Adresse, die zu BASF führt, wurde diese Passage gelöscht. Das Wort „Zwangsarbeiter“, so die Studie, komme im aktuellen Eintrag über die BASF nur noch „im Zusammenhang mit einer Wiedergutmachungsleistung“ des Konzerns vor.

Freiwillige gegen Profis.

Die Liste der interessengeleiteten Interventionen, die die Expertise erwähnt, ist lang. Den Text über den früheren iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zum Beispiel manipulierte der US-amerikanische Geheimdienst CIA. Über Rechner des Vatikans wurde der Eintrag des irischen Sinn Fein-Führers Gerry Adams verändert. Der User „7Pinguine“, nach eigenen Angaben FDP-Mitglied, strich die Erwähnung von Parteispenden für die liberale Partei im Kontext der umstrittenen Steuersenkungen für Hoteliers. Und sogar den Steyler Missionaren hält der Verfasser vor, das Online-Lexikon für eine geschönte Selbstdarstellung missbraucht zu haben – es ging um fehlenden Priesternachwuchs und die Rolle der Missionsbank in der Flick-Affäre.
Marvin Oppong fordert einen verbindlichen „Ethik-Kodex“ für Wikipedia. Er schlägt vor, dass die Benutzeroberfläche des digitalen Lexikons für Laien einfacher gestaltet wird und die Bearbeiter von Texten ihre Identität lüften müssen. Um mehr Transparenz herzustellen, sollten Institutionen und Unternehmen ihre Accounts offenlegen. Die Hinweise der Wikipedia-Betreiber auf ein Selbstreinigungssystem per gegenseitiger Kontrolle innerhalb der Schwarmintelligenz lässt der Autor nicht gelten. Denn allein in der deutschsprachigen Version der Enzyklopädie werden Tag für Tag rund 300 Artikel neu angelegt. Keine auf freiwilliger Basis agierende Gemeinschaft könne das „im Blick behalten“ – zumal sich ein harter Kern von wenigen Tausend Aktiven in den Debatten über die Artikel mit professionellen PR-Experten auseinander setzen müsse. Ein ungleiches Duell: Konzerne, Verbände und Parteiapparate seien „personell zu gut bestückt und finanziell zu gut ausgestattet“, betont Oppong. Schon wegen seiner Binnenstrukturen sei Wikipedia nicht in der Lage, Missbrauch zu erkennen und effektiv einzudämmen.
Den deutschen Zweig des weltweiten Netzwerks koordiniert der in Berlin ansässige gemeinnützige Verein Wikimedia, dessen Geschäftsstelle Spenden sammelt. Rund 50 Vollzeitkräfte sind hier beschäftigt. Zwar gibt es Ansätze eines Regelsystems gegen organisierte Manipulation. So müssen neu eingefügte Informationen durch verlinkte Quellen nachgewiesen sein; diese „Belegpflicht“ wird aber eher lax handhabt. Wer ständig versucht, gegen den Widerstand anderer Autoren Änderungen durchzusetzen und so einen „Edit War“ (Editier- oder Bearbeitungskrieg) anzettelt, kann im Extremfall wegen „Vandalismus“ durch den verantwortlichen Administrator gesperrt werden. Die Einführung einer Pflicht für alle beteiligten Schreiber, eindeutig rückführbare Klarnamen zu benutzen, stößt in der Wiki-Gemeinschaft mit Verweis auf den Datenschutz jedoch auf Widerstand.
Große Unternehmen beschäftigen immer mehr Netzexperten, die nicht nur auf Wikipedia-Texte Einfluss nehmen, sondern auch für eine positive Darstellung ihres Arbeitgebers in Suchmaschinen wie Google sorgen sollen. In den USA hat sich die Firma WikiPR darauf spezialisiert, von ihren Auftraggebern nicht erwünschte Artikel zu entfernen. Solchen Strategien ist mit halbherziger Regulierung nicht beizukommen.

Problem Anonymität.

Ändern muss sich auch die ehrfürchtige Haltung mancher Internetnutzer: Wikipedia mag überwiegend durch Zuarbeit „von unten“ entstehen, ist aber trotz der basisdemokratischen Aura keine wissenschaftliche Quelle und keinesfalls seriöser als traditionelle Enzyklopädien. Auch der (mittlerweile in gedruckter Form eingestellte) Brockhaus nahm durch Auswahl und Gewichtung seiner Einträge stets eine bestimmte Wertung vor. Doch hinter den Lexika alten Typs standen redaktionelle Gremien, Herausgeber und Verlage, die öffentlich bekannt und sichtbar waren. Es besteht kein Grund, den Autoren der Wikipedia eine ähnlich hohe Achtung entgegen zu bringen, wenn sie bewusst anonym bleiben.

Die Studie

„Verdeckte PR in Wikipedia“ ist unter www.otto-brenner-stiftung.de abrufbar. Sie ist auch gedruckt als Arbeitsheft 76 der Otto-Brenner-Stiftung erschienen und kann online bestellt werden.

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