Neue Realitäten im Norden

Journalistischer Einheitsbrei von Kiel bis Ostvorpommern?

Stürmische Zeiten im Nordosten: Neu- und Ausgründungen sowie Fusionspläne in ­großem Stil sind nicht mehr nur der Fantasie geschuldete Gedankenspiele weitsichtiger Betriebsräte, sondern seit kurzem Realität – eine aktuelle Ergänzung zur Titelgeschichte in diesem Heft. Während der Nordkurier (Neubrandenburg) zerlegt wird, steht bei der Ostsee-Zeitung (Rostock) und den Lübecker Nachrichten eine „Kooperation“ an.

Offenbar sind bahnbrechende Veränderungen beabsichtigt. Spätestens nach den jüngsten Entwicklungen in den Verlagshäusern hat die in Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam von DGB und ver.di ins Leben gerufene Aufklärungskampagne „Qualität und Vielfalt sichern“ ihre Berechtigung www.qualität-und-vielfalt-sichern.de . „Die Debatte der Heimatzeitungen darf nicht mehr länger nur in den Redaktionsfluren geführt werden, sie gehört in die Öffentlichkeit. Die Leserschaft und Interessenverbände sollen mitreden“, sagt Ernst Heilmann aus dem ver.di-Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern. Dazu bietet sich am 23. Februar in Schwerin Gelegenheit, wenn bei einem außerordentlichen Pressetag mit Medienexperten aus dem ganzen Bundesgebiet über die unternehmerischen Entscheidungen im Norden diskutiert werden soll.
Fritz Krüger, Betriebsratsvorsitzender beim Nordkurier (NK), soll derzeit den Beschäftigten erklären, welche Folgen mit der Gründung vieler Regionalverlage verbunden sind. Zu der gerade erfolgten Zerstückelung in Teilbetriebe zählt auch die Einrichtung einer neuen Servicegesellschaft, zu der alle Auszubildenden und viele Altersteilzeitler gehören. Der NK hat beim Verband der Zeitungsverlage Norddeutschland (VZN) seit vergangenem Sommer nur noch OT-Status – ohne Tarifbindung. Bei allen Neueinstellungen kommt dies bereits zum Tragen. Auch die eigentlich jüngste tariflich fällige Gehaltserhöhung findet dort nun nicht mehr statt. Es wird ein „frei vereinbartes, marktübliches“ Gehalt weit unter Tarif gezahlt. Nach monatelanger Verweigerungshaltung saßen im Januar erstmals wieder ­Geschäftsleitung und Gewerkschaften an einem Tisch. Erreicht wurde dies nur mit dem Druck eines Warnstreiks. Bei dem Sondierungsgespräch vertraten den Nordkurier erstmals deren neuer Geschäftsführer Lutz Schumacher sowie als juristischer Beistand Johannes Weberling aus Berlin. Schumacher, bei seiner vorhergehenden Wirkungsstätte, der Münsterschen Zeitung, ein Erfüllungsgehilfe beim Austausch der gesamten Lokalredaktion Anfang 2007, blieb auffallend ruhig.

Kündigungen befürchtet

Wortführer in der Runde war Medienrechtler Weberling, 1992 bis 1996 Leiter Personal und Recht bei der Berliner Zeitung und beim Berliner Kurier sowie seit 1995 stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Verlagsjustitiare. Schumacher ließ durchblicken, dass ihm betriebliche Vereinbarungen oder Abmachungen mit dem Betriebsrat lieber seien als ein mit Gewerkschaften gezimmertes Tarifgerüst. Der Geschäftsführer fragte Krüger, welcher Verlag in Deutschland mit der Größenordnung des NK (rund 400 Beschäftigte) sich noch eine eigene Druckerei, eine eigene Mantelredaktion, ein ­eigenes EDV-System und eigenes Rechnungswesen leisten könne. „Unsere Tarifkommission fordert eine langfristige Beschäftigungssicherung“, so Fritz Krüger. Aus der NK-Chefetage ist zu hören, dass ein betriebsbedingter Personalabbau nicht geplant sei. „Wenn das so ist, dann kann der Arbeitgeber unsere Forderungen nach Anerkennung des Tarifvertrages, Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und Zuständigkeit des Betriebsrates auch für die ausgegliederten Bereiche ruhigen ­Gewissens unterschreiben. Verträge sind justitiabel, mündliche Beteuerungen im Ernstfall nichts wert“, so ver.di-Fachsekretär Michael Pfeifer.
Für die Ostsee-Zeitung (OZ) und die Lübecker Nachrichten (LN) wurde von der Unternehmensleitung eine Kooperation beschlossen, künftig einen gemeinsamen Mantel zu erstellen. Dieser soll maßgeblich aus Lübeck kommen. Dazu müsste etwa ein Dutzend Rostocker Redakteure den Weg in die Marzipanstadt antreten. Bereits zum 1. April sollen insgesamt 40 Journalisten aus beiden Verlagen in die neue Firma wechseln. Derzeit laufen noch Verhandlungen, Mantelteile auch in Rostock zu produzieren. Doch die Pläne, die Thomas Ehlers, Geschäftsführer beider Blätter, als „Deutschlands spannendstes Zeitungsprojekt“ bezeichnet, reichen weiter. Man möchte nämlich nicht nur im ­eigenen Hause Synergieeffekte nutzen, sondern sich offensiv für ganz Norddeutschland aufstellen und Mantelseiten auch anderen Publikationen zur Verfügung stellen, etwa den Kieler Nachrichten oder dem gerade auf Sparkurs getrimmten Nordkurier. Schon 2010 könnte es nach dem Willen des beide Blätter beherrschenden Springer-Konzerns dazu kommen, dass das dann fusionierte Konstrukt „Ostsee-Verlag“ zu einer neuen Macht in der norddeutschen Medienlandschaft wird. Abgesehen davon, dass in vielen Verbreitungsgebieten Qualitätsjournalismus durch fehlende regionale Einflussmöglichkeit auf der Strecke bleiben würde, ist ein Personalabbau mit den angedachten Schritten programmiert. Die Betriebsräte bei OZ und LN befürchten, dass allein durch die Zusammenlegung ihrer beiden Blätter 200 Stellen überflüssig werden. Bald soll die Akquise für das gemeinsame neue Mantelprodukt bei benachbarten Verlagen an­laufen. Die ver.di-Mediensekretärin Eva Schleifenbaum warnt eindringlich vor journalistischem Einheitsbrei von Kiel bis nach Ostvorpommern, und sie denkt auch an die materielle Problematik in Sachen Urheberschaft: „Beiträge sollen künftig in verschiedensten Objekten im Print-, On­line-, möglicherweise auch im Rundfunkbereich verwertet werden. Dieses Contentmanagement führt zu hohen Rationalisierungsgewinnen für das Unternehmen, an denen die Urheber in keiner Weise beteiligt werden sollen. Insbesondere den Freien, die vom Mehrfachverkauf ihrer Werke ­leben, wird so das Wasser abgegraben. Dagegen müssen wir Strategien entwickeln.“

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