Online first – ohne Wenn und Aber

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Kann man mit neuen Themensetzungen neue, junge (Digital-)Abonnent*innen gewinnen, ohne die alten zu vergraulen? Das wollte die Sächsische Zeitung wissen und hat in einer ihrer Regionalausgaben ein neues Rezept getestet: Erweiterung des Lesergebiets und ein striktes „Online first“. Produziert wird nun direkt fürs Netz, erst danach werden die Themen für die Printausgabe des Lokalteils zusammengefasst. Klingt riskant, scheint jedoch zu funktionieren.

Die Zahlen sehen nicht gut aus. Uwe Vetterick, Chefredakteur der Sächsischen Zeitung aus Dresden, zeigt den Kolleg*innen des European Publishing Congress in Wien einen Chart. Über 40 Prozent seiner Leser*innen sind älter als 75 Jahre, knapp die Hälfte geht auf die 80-90 zu. Das Durchschnittalter der Neuabonnent*innen beträgt 64 Jahre. Er nennt ihn „Chart der Stille“, da es plötzlich für mehrere Sekunden ganz still wurde, als er die nackten Zahlen seinen Kolleg*innen in der Redaktion das erste Mal präsentierte.

Als „Paul Print“, so nennt Vetterick seinen personifizierten Durchschnittsabonnenten, die Sächsische Zeitung abonnierte, sei er noch im Zentrum seiner Kleinstadt am Rande von Dresden einkaufen gegangen. Heute müsse er dafür nach Dresden fahren. „Er ging in seiner Stadt aufs Amt, heute muss er für seinen Pass und Dokumente weit fahren, in einem größer gewordenen Landkreis. Auch Ärzte, Kinos und Restaurants sind in seiner Kleinstadt oder Gemeinde oft nicht mehr vorhanden“, beschreibt der Chefredakteur der „Sächsischen“ das Dilemma der Region, das für so viele Zeitungen gilt, nicht mehr nur im Osten Deutschlands. Der Lebenskosmos seiner Leser*innen habe sich in den vergangenen Jahren geöffnet. Er sei inzwischen nicht mehr identisch mit dem Zuschnitt der Lokalteile seiner Zeitung, aktuell bei der Sächsischen zwanzig an der Zahl. 

Rückzug aus der Nischenregion

Die Zahlen werden nicht besser, schaut man sich die Entwicklung der Abonnent*innenzahlen in der Region an. Früher einmal habe die Sächsische Zeitung in einer Gemeinde mit 5.000 Einwohnern bis zu 800 Abonnent*innen gehabt, schildert Vetterick gegenüber M. „Heute haben wir in der gleichen Gemeinde, die inzwischen auch weniger Einwohner hat, nur noch etwa 80 Abonnenten. Und wir gehen davon aus, dass wir dort in fünf Jahren noch um die 30 Abonnenten haben werden.“ Den Blattmachern sei klar geworden, dass Geschichten, die früher aus der Gemeinde ausschließlich für die Gemeinde erzählt wurden, weder ökonomisch noch publizistisch abbildbar seien.

Ein hoffnungsloser Fall? Nein, so Vetterick, denn die Inhalte, die Geschichten der Zeitung kämen weiterhin gut an. „Wir haben kein Reichweitenproblem, wir haben ein Monetarisierungsproblem.“ Der Lichtblick kommt von den Onlinenutzer*innen. Die Hälfte der User hier ist zwischen 25 und 45 Jahre alt. Das Geld in die Kasse spülen jedoch die noch zahlenden, aber überalterten Print-Abonnent*innen. Und dieses Geschäft ist demografisch endlich.

Die Zeitung musste handeln. User zu Abonnent*innen machen, das war der Plan. Im Herbst 2018 wurden erste Inhalte hinter einer Bezahlschranke versteckt, doch das war nur ein kleiner Anfang. Denn die Herausforderung, eine junge Nutzerschaft als zahlende Kunden zu gewinnen, ohne die älteren, die schon zahlen, zu vergraulen, ist eine Herausforderung. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Inhalte und Qualität erhalten bleiben sollen, bei einem Team, das in den nächsten Jahren vermutlich kleiner werden wird, wie Vetterick durchblicken ließ.

Nur noch, was online gut läuft

Wie viele lokale Geschichten aus der Zeitung funktionieren tatsächlich auch online? Etwa 20 Prozent der Stories sorgen für rund 80 Prozent des Traffics auf der Website. Damit hätten nur 20 Prozent der lokalen Zeitungsgeschichten das Potenzial aus Usern digitale Abonnent*innen zu machen, sagt Vetterick. Denn nur Geschichten, auf die es eine große Zahl von Zugriffen gebe, ermöglichten es, mit den Menschen, die zugreifen, auch tatsächlich ins Geschäft zu kommen.

Lässt sich damit eine Zeitung machen? Eine Lokalzeitung allein mit onlinetauglichen Geschichten? Und gehen auch die älteren Leser*innen diesen Weg mit? Die Region Löbau/Zittau wurde zur Testregion der Sächsischen Zeitung. Online first, ohne Wenn und Aber. Und nur die 20 Prozent der Themen, die online fliegen. „Dazu haben wir eine Formel gefunden“, so Thomas Mielke, Chef der Lokalredaktion Löbau/Zittau. Die „3 Es“: Emotionalität, Exklusivität, Exzellenz. Soll heißen: Geschichten sind Menschengeschichten, aber auch lokale Politik und weniger Blaulicht. Um andere Themen kümmert man sich in Löbau/Zittau nach eigenem Bekunden nicht mehr.

Doch es gibt noch einen Haken. Zittau sei nicht Berlin, schiebt Mielke hinterher. Mehr als drei emotionalisierende Geschichten pro Tag werde man bei ihm auf dem Lande nicht finden, nicht mal ein Starreporter könne das. Eine Lokalzeitung bekomme man damit jedenfalls nicht gefüllt. Darum sei es Zeit gewesen, sich dem erweiterten Lebensraum von „Paul Print“ auch als Zeitung zu öffnen. Eine wohlklingende Umschreibung für die Zusammenlegung der beiden Lokalteile Zittau und Löbau. In Scharen weggelaufen seien die Leser*innen jedenfalls nicht. Weder die Konzentration auf Online-Themen noch die Zusammenlegung hätten Verluste gebracht, im Gegenteil: Das Blatt konnte seine Leserwerte in beiden Regionen steigern, in Löbau sogar um 20 Prozent. Zudem laufen die Onlineschichten nun auch in der Printausgabe deutlich besser, so die Ergebnisse der durchgeführten Leserwertanalyse. Ein weiteres Fazit: Leser*innen verbringen mit ihrem größer gewordenen Lokalteil insgesamt auch mehr Zeit.

Aufatmen in Dresden und ebenso in Zittau/Löbau also. Seit November 2018 hält man sich in der Testregion nun strikt an die Vorgabe „Online first“: alles geht direkt ins Internet. Ob und in welcher Form der Pilot bei anderen Lokalausgaben oder gar dem Mantel Nachahmer findet, ist offen. Aber man darf vermuten, dass es sie geben wird, denn Löbau/Zittau verkauft von allen Lokalredaktionen die meisten Online-Abos.

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